Die Komfortzone

 Die Komfortzone

"Ich habe mein Buch ,Der Weg außerhalb der Komfortzone´ genannt. Ich habe es auf Englisch übersetzt und auf Amazon veröffentlicht", erzählte Olaf mit stolzer Stimme. Er war groß, blond, Ende 30 und hatte eine krumme Nase, die seinem Gesicht gewissen Charakter verlieh. Seine blonden Haare sahen so aus, als ob er sie morgens niе kämmen würde. Er trug ein blaues Jeans-Hemd, das bis oben zugeknöpft war, und schwarze Jeanshosen. Seine hellblauen Augen funkelten vor Begeisterung. Olaf war der Ehemann einer Freundin. Sie hatte uns in Kontakt gebracht, um unsere Erfahrungen als Schriftsteller auszutauschen. Wir saßen in einem dieser Berliner Cafés, die von vielen Menschen als eine Art Home Office genutzt wurden. An den meisten Tischen gab es neben brennenden weißen Kerzen Laptops. An den Wänden hingen Bilder abstrakter Kunst. Im Hintergrund liefen die Tangos von Piazzolla.

„Und? Wie läuft es?", fragte ich.

„Es verkauft sich blendend!", lachte er selbstbewusst.

„Gibst du praktische Tipps, wie man die Komfortzone verlässt?", hakte ich nach.

Das Thema interessierte mich. Ein weiser Mann sagte mir vor Jahren, dass das Leben dort anfangen würde, wo die Komfortzone enden würde. Wenn ich mein Leben betrachtete, musste ich meistens feststellen, dass das Leiden dort anfing, wo die Komfortzone endete. Jetzt saß ich hier mit diesem Altersgenossen, der darüber ein ganzes Buch geschrieben hatte. Bestimmt konnte ich mehr darüber erfahren und einiges davon lernen.

„Ja – das ganze Buch besteht aus Tipps!", hörte ich seine feste Stimme sagen.

„Gib mir ein Beispiel!", forderte ich ihn auf.

Er dachte paar Sekunden nach, nahm einen Schluck aus seinem Kaffee und sagte:

„Ich treffe mich jeden Mittwochabend zum Stammtisch mit ein paar Freunden zusammen. Ich mache das seit Jahren. Um die Komfortzone zu verlassen, machen wir das Treffen immer in der gleichen Straße, aber in unterschiedlichen Kneipen"

„Wow – das ist eine Art sanften Verlassens der Komfortzone...", kommentierte ich.

„Nicht unbedingt – in manchen Kneipen wäre ich sonst nie gewesen… Raucherkneipen, Gay Bars, Kneipen, in denen man Heavy Metal Musik laut hört, gehören dazu!", argumentierte er.

Als ich zur Premiere des Theaterstücks im Gorki Theater ging, wusste ich nicht, dass ich mit diesem Thema noch einmal konfrontiert werden würde.

Das Stück hieß Salome und war nach dem Roman von Oscar Wilde inszeniert, einem meiner Lieblingsautoren.

Ich hatte eine Karte für einen Platz, der in der Mitte des Saals war: 10. Reihe, 10 Sitz.

„Die Vorstellung dauert 140 Minuten und es gibt keine Pause!", sagte mir die weißhaarige Dame an der Kasse, bevor sie mir die Karte überreichte.

„140 Minuten sind zwei Stunden und 20 Minuten", rechnete ich gedanklich um.

„Ich muss schauen, dass ich vor dem Beginn die Toilette besuche", erlaubte ich mir den Spaß. Sie nickte verständnisvoll.

Der Saal war zum Bersten voll. Es war schließlich die Premiere. Аuf den rot gepolsterten Stühlen saßen Männer, Frauen und alle denkbaren anderen Geschlechter, die sich in den letzten Jahren in Berlin bemerkbar machten. Die Beleuchtung war gedämpft und kam von der Seite. Ich hatte eine tolle Sicht und freute mich auf das neue Theatererlebnis. 

Bis jetzt hatten mich die Vorstellungen im Gorki Theater meistens begeistert. Die Theaterstücke von Kunstschaffenden wie Yve Ronen erinnerten mich daran, warum die alten Griechen das Theater erschaffen haben: Die Götter wollten sich amüsieren. Dieses Mal waren sie nicht involviert, aber ich hoffte auch auf etwas, was den Kopf entspannt und den Geist belebt.

Als die Lichter ausgingen und die Vorführung anfing, merkte ich schnell, dass es nichts für mich war. Die Besetzung der Rollen, die Art des Humors und die Provokation entsprachen nicht meinem Geschmack. Mit schwarzen Roben bekleidete Männer, die Strumpfhosen mit einem Loch für ihre heraushängende Penisse anhatten, symbolisierten den Tod. Ein Transvestit spielte die Prinzessin Salome. Es vergingen die ersten 20 Minuten und die Vorstellung, dass ich das noch zwei Stunden über mich ergehen lassen musste, schreckte mich ab. Ich musste einen Ausweg finden. 

Hätte ich einen Platz am Ende der Reihe genommen, wäre es nicht nur günstiger gewesen, sondern auch viel einfacher, mich aus dem Staub zu machen. In der Mitte des Saals war es anders. Ich zählte die Menschen, die rechts von mir saßen: es waren 10. Genauso viele saßen auf meiner linken Seite. Bestimmt waren das Intellektuelle, die konzentriert schauten und sich intensiv mit dem Geschehen auf der Bühne auseinandersetzten. Es war mir sehr unangenehm, sie dabei zu stören. Ich stellte mir ihre missbilligende Blicke vor, wenn ich an ihnen Richtung Ausgang vorbeilaufen würde. Andererseits war Berlin eine Stadt der freien Meinungsäußerung. 

„Leben und leben lassen", hatte Friedrich der Große mal gesagt, und das war eine Art Motto der Stadt geworden. Ich machte mir gedanklich Mut. Das Leben sollte doch dort anfangen, wo die Komfortzone endete. Es kostete mich noch etwa 10 Minuten an Gedanken, bis ich mich überwinden konnte. 

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und entschied mich für einen Ausweg auf der rechten Seite. Das war auch die Seite, von der ich hineingekommen war. Ein junger Mann saß neben mir und bestimmt würde er Verständnis und Mitgefühl für meine Aktion haben. Ich beobachtete das Geschehen auf der Bühne aufmerksam und wartete auf den Augenblick, in dem ich meinen Plan umsetzen konnte.

Fast 40 Minuten der Vorstellung waren vergangen, als der Transvestit sein Lied beendete und kurz hinter die Kulisse verschwand. Die Männer mit hängenden Pimmeln drehten sich mit ihrem Rücken zum Publikum und ich musste handeln.

„Verzeihung!", sagte ich zu meinem Sitznachbar, aber er rührte sich nicht.

„Entschuldigung! Dürfte ich vorbei?", wiederholte ich meine Bitte. Er reagierte nicht. Ich schaute ihn aufmerksam an und musste feststellen, dass er eingeschlafen war. Wie peinlich! Ich drehte mich schnell um. Auf meiner linken Seite saß eine Dame. Sie war übergewichtig und hatte noch ihren Pelzmantel an.

„Verzeihen Sie, darf ich vorbei?”, richtete ich dieses Mal an sie meine Bitte.

Es kam wieder keine Reaktion. Ihr Gesicht war von der Dunkelheit des Theatersaals versteckt. Ich spürte ihren blumig-pudrigen Duft. Sie hatte viel davon aufgetragen.

Auf der Bühne tat sich wieder etwas. Die dunklen Gestalten waren dabei, sich wieder in Bewegung zu setzen. Ich hatte keine Zeit zu verlieren.

„Verzeihen Sie bitte!”, erhöhte ich meine Stimme ein wenig. 

Ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten sie. Sie war auch in der Welt der Träume. 

War ich der Einzige in diesem Saal, der nicht beim Pennen war?

Ich konnte mich wieder hinsetzen und versuchen, mich der Gruppe der sich ausruhenden Intellektuellen anzuschließen, aber die Vorstellung, noch zwei Stunden in diesem Saal sitzen zu bleiben, löste bei mir Platzangst aus.

Ich musste unbedingt herauskommen. Um das zu erreichen, musste ich schnell sein. Ich ließ die Dame in Ruhe. Ihr Körper würde auch beim wachen Zustand eine schwierig zu überwindende Hürde sein. Das wäre mit dem Nachbar auf meiner rechten Seite aber nicht der Fall. Ich drehte mich schnell wieder zu ihm um und berührte ihn sanft, aber fordernd an der Schulter. Er erschrak.

„Verzeihung – ich muss hier schnell raus!”

Er schaute sich um. Bestimmt musste er sich auch wieder in dieser Umgebung zurechtfinden.

„Wir sind im Theater!”, versuchte ich ihm zu helfen.

„Und ich muss hier raus!”, wiederholte ich. Ohne auf seine Antwort zu warten, griff ich meine Tasche mit einer Hand und den Wintermantel mit der anderen und mit einem möglichst großen Schritt übersprang ich die erste Hürde, die seine Beine darstellten.


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