Wie man in Deutschland als Weihnachtsmann das meiste Trinkgeld holen kann

  Wie man in Deutschland als Weihnachtsmann das meiste Trinkgeld holen kann


Wie man in Deutschland als Weihnachtsmann das meiste Trinkgeld holen kann

Ich arbeitete gern als Weihnachtsmann. Einmal im Jahr hatte ich das Gefühl, in Deutschland geliebt und willkommen zu sein. Das war der Tag, an dem ich das Weihnachtskostüm trug.

Bei meinen ersten Auftritten war ich ein wenig verkrampft. Schließlich musste ich vor unbekannten Menschen eine Show vorführen, ihre Kinder bescheren und alle dabei unterhalten. Ich hatte Lampenfieber. Die rote Mütze war mir zu eng. Der weiße Rauschebart saß nicht bequem. Der Weihnachtsmantel brachte mich zum Schwitzen. Die Familien kauften so viele Präsente, dass sie kaum in meinen riesigen Geschenkesack hineinpassen konnten. Darüber hinaus waren sie schwer und ihr Tragen auf meinem Rücken war sogar für kurze Strecken mühsam. Das Zeitfenster von einer halben Stunde, das ich maximal bei jeder Familie verbringen sollte, schien mir zu kurz, und am Anfang machte ich mir oft Gedanken, ob ich es rechtzeitig zur nächsten Familie schaffte. So viel über das Leiden des Weihnachtsmannes.

Zu dieser Zeit machte ich viele andere Gelegenheitsjobs, um mein BWL-Studium an der FU in Berlin zu finanzieren. Ich war unter anderem als Umzugshelfer, Kellner, Bau- und Lagerarbeiter und als Tankstellenaushilfe in den Berliner Straßen zu sehen. Als Weihnachtsmann hatte ich aber zum ersten Mal eine sinnvolle Mission: Freude in die Kinderherzen zu bringen. Dabei verdiente ich sogar gutes Geld, das es mir erlaubte, danach zu verreisen und an einem neuen Ort das Neujahrsfest ausgiebig zu feiern.

Der Besuch bei den Familien kam mir wie ein Kurzfilm vor. Ich ging mit einem Lied hinein und mit einem anderen hinaus. Dazwischen verteilte ich Geschenke und hörte zu, was für Gedichte und Lieder die Kinder für mich vorbereitet hatten. Am Anfang hielt ich strikt an meinem Programm fest. Im Laufe der Zeit konnte ich mich langsam entspannen und mich in die Rolle des Weihnachtsmannes einleben. Die Frage, die mich oft beschäftigte, war: „Wie konnte ich mehr Trinkgeld bekommen? Wie konnte ich herausfinden, worauf die Deutschen standen? Was machte die Brieftaschen der Menschen in diesem Land lockerer?“

„Die Deutschen lieben es, gequält zu werden!”, sagte ein bulgarischer Freund, der bereits lange mit einer deutschen Frau verheiratet war.

„Wie meinst du das?”

„Sie sind mit den Märchen der Gebrüder Grimm aufgewachsen“, setzte er seine Erklärung fort.

„Denke nur an das Rotkäppchen! Dort werden alle vom bösen Wolf gefressen, bis der gute Jäger seinen Bauch mit einem Messer aufmacht, alle befreit, seinen Bauch mit Steinen wieder vollmacht, bevor er das arme Tier wieder in den Brunnen wirft. Es gibt dabei eine wichtige Reihenfolge, die die Mentalität der Deutschen gut beschreibt”, sagte mein Freund und fügte mit einem bitteren Gesichtsausdruck hinzu:

„Merke wohl, Veso: Zuerst kommt die Qual, danach die Befreiung und zum Ende die verdiente Strafe – das ist die Message, die sie noch als Kinder in ihre Köpfe eingepflanzt bekommen!”

„Meinst du, mit anderen Worten, ich sollte statt der Rute eine Peitsche und anstatt des Bartes eine Maske aufsetzen und Techniken aus der SM-Szene bei meinen Auftritten einsetzen?”

„Das ist Dir überlassen, aber vergiss nicht – zuerst sollte die Qual und dann die Belohnung kommen! Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin seit über 15 Jahren mit Heike verheiratet”, lachte er.

Ich entschied mich, seine Aussage bei einem meiner nächsten Auftritte als Weihnachtsmann auf die Probe zu stellen.

Die Familie war wohlhabend. Die Wohnung war ein Loft im Dachgeschoß in Berlin Mitte, nicht weit von der Museumsinsel. Der Tannenbaum war bestimmt über 2 Meter hoch und sah prächtig aus. Er war mit goldenen Glaskugeln und zahlreichen Kerzen geschmückt. Es gab drei lange Ledersofas und vier Sessel in schwarzer Farbe, die rund um den Tannenbaum einen Halbkreis bildeten. Ein Zebrafell-Teppich lag auf dem glänzenden Parkettboden. An den Wänden hingen abstrakte Bilder mit geometrischen Figuren sowie der Kopf eines riesigen Wildschweins.

Im Raum waren außer den drei Kindern ungefähr 15 Menschen anwesend. Die ganze Verwandtschaft war offensichtlich dabei. Alt und Jung, Frau und Mann warteten auf meine Performance. Die meisten von ihnen saßen auf den Sofas und in den Sesseln und hielten Gläser mit Champagner in ihren Händen. Nachdem ich die Geschenke an die Kinder verteilt und sie im Gegenzug ihre Gedichte und Lieder vorgetragen hatten, fühlte ich, dass die Zeit für meinen Versuch gekommen war.

„So mein liebes Kind!“, wandte ich mich an den Vater der Kinder.

„Komm´ jetzt mal näher zum Weihnachtsmann!“

Ein klein gewachsener, knochiger Mann Ende 40 stand langsam vom Sessel auf und bewegte sich in meine Richtung. Seine Haare waren kurz geschnitten. Er trug eine kleine Brille mit dicken, schwarzen Rahmen und schaute in seinem grauen Anzug mit weißem Hemd wie ein Bankdirektor aus. Einer dieser kleinen Männer, die gut mit Zahlen umgehen konnten und alles rund um sich unter Kontrolle haben wollten.

„Komm noch ein Stück näher, mein Liebes!“, ermutigte ich ihn.

„Keine Angst! Der Weihnachtsmann beißt nicht.”

Der Mann machte noch einen unsicheren Schritt in meine Richtung.

„Mein Kind, du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben, es sei denn…”, deutete ich mit meinem Zeigefinger auf ihn, „… wenn du nicht artig warst...“

Eine Frau, die auf dem Sofa saß, lachte laut. Sie war einen Kopf größer als er und hatte lange blonde Haare. Bestimmt die Gattin.

Ihr Mann näherte sich unsicheren Schritten. Als er stehen blieb, war die Distanz zwischen mir und ihm nicht mehr als 1,5 Meter. Seine Kinder saßen neben dem Tannenbaum und waren mit ihren Geschenken beschäftigt. Die ganze Verwandtschaft saß um uns herum. Tanten, Onkel und Neffen, die Großeltern und, nicht zuletzt, seine Ehefrau schauten uns mit Neugierde an. Im Hintergrund hörte man den Weihnachtsgesang eines Kirchenchors. Der Tag des Jüngsten Gerichtes schien gekommen zu sein. Von der Wand aus beobachtete das Wildschwein das Geschehen.

„Sag´ jetzt, mein liebes Kind, hast du dieses arme Tier umgelegt?”, fragte ich ihn und deutete mit dem Kopf in Richtung des Tieres.

Ich hörte Gelächter. Der Bankdirektor versuchte auch zu lachen, aber auf seinem Gesicht kam eine komische Grimasse zustande. Es war ihm peinlich vor der ganzen Verwandtschaft vor dem Weihnachtsmann Rede und Antwort zu stehen, aber er wollte höflich bleiben. Ich wartete ab, dass sich das Publikum beruhigte und wiederholte langsam meine Frage.

„Hast du dieses arme Wildschweinchen umgebracht, mein liebes Kind?”

„Nein, lieber Weihnachtsmann!’’, antwortete er so schnell wie es ging.

„Das war mein Schwiegervater. Er ist auch hier!”, zeigte er mit seinem Finger auf einen alten Mann auf dem Sofa.

„Er jagt die armen Tiere in Afrika. Dieses Zebra hat er auch auf seinem Gewissen”, zeigte er auf dem Teppich. Ich sah, dass sich auf seiner Stirn Schweißperlen bildeten. Er versuchte, sich aus der Verantwortung zu ziehen.

„Vielleicht könnte er an meiner Stelle hierherkommen und mehr davon dem lieben Weihnachtsmann berichten”, schlug er vor und machte schnell einen Schritt zurück.

„Rühre dich nicht vom Fleck, mein Kind! Der Weihnachtsmann muss nachschauen, was meine Engel über den Vorfall geschrieben haben”, sagte ich mit lauter Stimme und öffnete langsam mein goldenes Buch. Ich benutzte ein großes und dickes Buch in A4 mit Hardcover.

„Ja, Ja!”, tat ich so, als ob ich vertieft darin las, und streichelte dabei meinen Bart.

„Hier steht nur Gutes über den Opa, aber das kann man nicht über Dich sagen…”, sagte ich mit strenger Stimme und schaute ihn an. Sein Kopf zuckte angespannt zur Seite und fragte:

„Wie bitte?”

„Du hast richtig gehört, mein Kind! Der Weihnachtsmann möchte von Dir wissen, was die letzte gute Tat war, die Du deiner Frau gegenüber vollbracht hast?!“


Der Mann stand vor mir. Sein Gesicht war rot angelaufen. Es war ihm offensichtlich peinlich, dass er die Situation nicht unter Kontrolle hatte. Er wusste nicht genau, worauf ich hinauswollte. Er war im Zentrum der Aufmerksamkeit. Viele Handys wurden auf ihn gerichtet und die Familienmitglieder filmten fleißig das Geschehen mit. Ich hörte gedämpftes Gelächter im Hintergrund. Der Mann stand vor dem Familiengericht und der Weihnachtsmann war sein Richter.

„Der Weihnachtsmann wartet auf Deine Antwort, mein Kind! Was war die letzte gute Tat, die Du deiner Frau gegenüber vollbracht hast?!“, wiederholte ich lauter und langsamer meine Frage.

„Ich habe die Fotos zum Fotolabor gebracht, lieber Weihnachtsmann!“, sagte er und lachte nervös. Es war mir klar, dass er möglichst schnell alles hinter sich bringen wollte. Das entsprach aber nicht meinem Plan.

„Denkst Du, mein Kind, dass eine solche Tat als gut und nicht als selbstverständlich im Familienleben bezeichnet werden kann?!“, hakte ich nach.

„Aber lieber Weihnachtsmann“, stammelte er vor sich hin.

„Frag´ bitte meine Frau, was sie Gutes mir gegenüber getan hat. Ich bin mir dessen sicher, dass sie auch ganz schön ins Schwitzen kommen wird!“

Der Papa wusste, dass Angriff die beste Verteidigung war. Er wollte sich bereits umdrehen, als ich ihn unterbrach:

„Nein, mein Kind, wir sind noch lange nicht mit Dir fertig! Der Weihnachtsmann möchte von Dir hören, was Du zuletzt aus dem Gefühl der Liebe und nicht aus der Verpflichtung heraus für deine liebe Ehefrau getan hast?“

Der Mann schüttelte genervt den Kopf und schaute sich um. Er brauchte Hilfe von außen. Im Raum herrschte Stille. Alle schauten sich die Szene schweigend an und niemand mischte sich ein. Nach einigen Sekunden entschied ich mich, seinen Qualen ein Ende zu setzen.

„So, meine Kinder! Dann lasse ich die Frage offen für nächstes Jahr, wenn ich zu Euch komme. Aber dann will ich mehr Gutes hören! Der Weihnachtsmann will mehr Liebe im Herzen spüren!“

Als ich den Satz beendete, wurde ich euphorisch mit Applaus verabschiedet. Das Trinkgeld stieg um das Dreifache. Der Opa gab mir an der Tür 20 Euro extra. Ich machte die Wohnungstür zu, befreite mich vom Bart, atmete tief ein und aus und lächelte zufrieden. Also stimmte das, was der mit einer deutschen Frau verheiratete Bulgare mir erzählt hatte.

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