Omar Sharif
Omar
Sharif
Ich
war 20 und war vor einem guten Jahr in Deutschland angekommen. Ein
großer Traum von mir war in Erfüllung gegangen: ins Ausland zu
gehen, um an einer guten Universität Wirtschaft zu studieren.
Die
ersten Monate waren sehr hart. Die Kälte, das fehlende Licht und vor
allem die fehlende Wärme der zwischenmenschlichen Beziehungen
machten mir zu schaffen. Die Vorlesungsräumlichkeiten waren
überfüllt. Die Professoren waren meistens alt und langweilig, der
Unterrichtsstoff voll unnützer Theorie.
Um
unabhängig von der finanziellen Unterstützung meiner Eltern zu
werden, jobbte ich jedes Wochenende an einer Aral-Tankstelle in
Wedding. Meine Arbeit bestand darin, acht Stunden lang die leeren
Regale mit Flaschen aufzufüllen. Noch lange Zeit danach wurde mir
übel, wenn ich den Geruch einer Tankstelle wahrnahm.
Es
dauerte nicht lange, bis ich depressiv wurde. Schwere Gedanken hingen
über meinem Kopf. Selten empfand ich Freude.
Ich
erklärte meinen Eltern am Telefon, dass ich lieber nach Bulgarien
zurückkehren würde, um dort einen 18 Monate langen Militärdienst
zu absolvieren, als langfristig ein solches Leben zu führen.
„Du
hast hart gekämpft, um einen Studienplatz zu bekommen. Warte bis zum
Frühling bis du eine endgültige Entscheidung triffst", war der
Ratschlag meines Vaters und ich hörte auf ihn.
Der
Frühling kam und das Leben in Berlin änderte sich. Die Menschen
lachten mehr. Die Sonne war öfters zu sehen. Ich entschied mich zu
bleiben.
Der
Sommer kam. Die Fußballweltmeistershaft wurde in den USA ausgetragen
und Bulgarien war dabei. Ich hatte deswegen einen alten Fernseher
gekauft, aber leider empfing er nicht alle Programme. Damals wohnte
ich in einem Studentenwohnheim, das nicht weit vom Ku´damm entfernt
war. Bulgarien war in einer Gruppe mit Griechenland, Nigeria und
Argentinien und spielte die WM seiner Fußballgeschichte: die
Mannschaft verlor zuerst gegen die Nigerianer 0:3, aber holte danach
einem Sieg gegen die Nachbarn aus Griechenland mit 4:0. Es hing vom
Ausgang der letzten zwei Gruppenspiele ab, welche Mannschaft in die
zweite Runde kommen würde.
Es
war das Spiel zwischen Argentinien und Nigeria. Diego Maradona musste
gegen die gut gebauten und technisch versierten afrikanischen Löwen
auftreten. Das Spiel war ein Muss für mich. Da mein Fernseher das
Programm der Übertragung nicht empfing, ging ich in ein Hotel am
Ku´damm. Das Hotel hieß Kempinski und zeigte auf großer Leinwand
die Spiele. Damals wusste ich nicht, dass es sich um das erste
Kempinski-Hotel weltweit handelte. Das Hotelgebäude sah mit seiner
Fassade nicht nach Luxus aus, sondern erinnerte mich an die
zahlreichen, sozialistischen Hotelbauten, die in meiner Heimatstadt
Sofia zu finden waren. Die Hotelkategorie war mir auch gar nicht
wichtig. Wichtig war, dass ich mir das Spiel anschauen konnte. Ich
ging an der Rezeption vorbei und fand das Restaurant, in dem das
Spiel ausgetragen wurde. Ich suchte mir einen zentralen Platz, setzte
mich an einen Tisch mit weißer Decke und zwei dunkelroten,
gepolsterten Stühlen und bestellte einen Espresso.
Fußball
war für mich wie eine Religion. Als Kind musste ich immer bitter
weinen, wenn meine Mannschaft ZSKA Sofia ihre Spiele verlor. Später
trainierte ich jahrelang bei Slavia und hatte den Traum vieler Jungs,
einen berühmten Fußballer zu werden. Ich traute mir das aber nicht
zu, folgte dem Beispiel meiner Eltern und entschied mich für einen
akademischen Werdegang.
Das
Spiel hatte gerade angefangen, als an einem großen Tisch neben mir
eine Gruppe fein angezogener Menschen Platz nahm. Ein älterer Herr
mit riesigen Ohren war der Gruppenführer. Er stellte offen seine
grauen Brusthaare und goldenen Halsketten zur Schau und machte auf
mich einen selbstbewussten, fast zu selbstbewussten Eindruck. Rund um
ihn gab es drei hübsche Damen, die viel jünger waren , und noch
zwei Herrschaften, die Anzüge und weiße Hemde trugen und auf den
Eindruck erweckten, als ob sie dem älteren dienen würden. Das
Restaurant war so groß wie die Hälfte eines Tennisplatzes und
wirkte leer. Es gab keine anderen Menschen außer uns und dem
Kellner.
Ich
wollte keine einzige Sekunde vom Spiel verpassen und konzentrierte
mich auf das Geschehen auf dem Fußballfeld.
"Where
are you from?"
Die
Frage kam von hinten und ich kapierte zuerst nicht, dass sie an mich
gerichtet wurde. Deswegen schenkte ich dem Fragenden keine
Aufmerksamkeit.
"Where
are you from?", wiederholte die männliche Stimme in einer
Tonlage, die ich nicht länger überhören konnte. Ich schaute in die
Richtung meiner Nachbarn: Der alte Mann saß fast zwei Meter von mir
entfernt und seine dunklen Augen schauten mich intensiv an. .
"Bulgaria",
antwortete ich kurz und schaute gespannt, als Maradona den Ball
annahm und sich gegen zweimal größere Gegenspieler durchsetzte. Der
kleine Argentinier konnte eine Menge mit seiner brillanten Technik
anstellen.
"Sofia?",
fragte er weiter.
"Yes,
Sir!", versuchte höflich zu sein, aber mit ein bisschen
lauterer Stimme wollte ich dem Alten zu verstehen geben, dass es mir
momentan nicht nach einem Small Talk mit ihm war.
Mir
kam es komisch vor, dass dieser alte Mann, der offensichtlich sehr
vermögend und dazu in netter Gesellschaft reizender Frauen und
elegant angezogener Herren war, sich mit mir beschäftigte.
"What
are you doing?", fragte er weiter. Der Mann hatte bestimmt die
60er überschritten. Seine grauen Haare wurden nach hinten gekämmt
und öffneten sein Gesicht. Seine dunklen Augen konnten Flammen
schießen und verrieten sein Temperament.
"Studying!",
versuchte ich höflich zu bleiben, antworte aber so kurz wie ich nur
konnte, um den Konter der Nigerianer nicht zu verpassen. Schließlich
war vom Ergebnis dieses Spiels maßgeblich abgängig, ob die Bulgaren
weiterkommen würden.
"Bulgaria
has a great football team!", hörte ich den Alten sagen. Seine
Stimme war fest und klang so, als ob er keine andere Meinung als
seine akzeptieren würde. Er hatte über die Länge seiner Lippen
einen grauen Schnurrbart. Seine Augenbrauen waren dunkler. Hatte er
sie gefärbt? Ich wusste, dass sich Männer im arabischen Sprachraum
besonders viel um die Form und Farbe der Augenbrauen kümmerten. War
der Alte ein Araber? Das ging mich nichts an. Ich wollte Fußball
gucken.
"Thank
you, Sir!", sagte ich und drehte meinen geposlterten Stuhl ein
wenig näher in die Richtung der Leinwand und ein bisschen weg von
der Gruppe um den alten Mann. Es dauerte nur wenige Sekunden bis er
explodierte:
"You
motherfucker! You little bastard! What do you think that you are? You
piece of shit!! You Bulgarian prostitute of the Soviets!"
Ich
konnte meinen Ohren nicht glauben. Ich befand mich zum ersten Mal in
diesem Hotelrestaurant, hatte extra eine teure Tasse Espresso
bestellt, obwohl ich davor genug Kaffee getrunken hatte, nur um das
Recht zu bekommen, ein Fußballspiel in Ruhe anzuschauen, und dann
zog ich so eine Reaktion eines mir unbekannten, viel älteren Herren
an. Die Eskalation der Situation überforderte mich. Was sollte ich
tun? Den Alten zur Ruhe bitten oder den Raum verlassen? Zuerst tat
ich so, als ob ich ihn nicht hören würde und schaute gebannt auf
die Leinwand.
Der
alte Mann hatte offensichtlich die Fassung verloren und überschüttete
mich vor allen Menschen mit schlimmen Schimpfwörtern auf Englisch,
die ich bis jetzt nur aus Filmen und Hip Hop Songs kannte. Ich
bemühte ihn weiter zu ignorieren und fragte mich, wieso er so
überreagierte.
Offensichtlich
war er an so an die Anerkennung und Achtung der anderen Menschen
gewöhnt, dass er das als Selbstverständlichkeit empfand und es
nicht akzeptieren konnte, dass jemand nicht mit ihm reden wollte. Als
er sich nach paar Minuten nicht beruhigte, rief ich den Kellner an.
Er
war ein kleiner, magerer Typ mit langen, behaarten Händen und roch
nach einem würzigen Duft.
„Können
Sie den alten Mann zu Ruhe bringen?", fragte ich ihn.
Ich
sah in seinem blassen Gesicht eine Mischung aus Verständnis und
Hilflosigkeit. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen.
Er
näherte sich und flüsterte mir ins Ohr:
„Mein
Herr, das ist ein sehr bekannter Schauspieler und Stammgast unseres
Hotels."
Ich
merkte, dass er mit dieser Situation überfordert war und versuchte
meinen Wunsch noch einmal zum Ausdruck zu bringen:
„Ich
bin auch ein Gast Ihres Restaurants und möchte nur meine Ruhe haben,
um ein Fußballspiel anzuschauen. Ihre Aufgabe ist es doch, ihre
Gäste zufrieden zu stellen, oder? Können Sie sich bitte darum
kümmern?"
Der
Kellner stand aber neben mir und rührte sich nicht vom Platz. Als ob
er vermeiden wollte, dass der Alte auf mich losging. Der böse Greis
schimpfte weiter. Die Damen versuchten ihn zu beruhigen, aber das
schien ihn weiter anzuheizen. Die Anzugträger beobachteten das
Geschehen schweigend. Ihre Gesichter verrieten keine Emotionen.
Bestimmt waren sie seine Agenten.
Die
Halbzeit endete und ich entschied mich zu gehen. Vielleicht würden
die 15 Minuten Pause ausreichen, um einen anderen Ort zu finden, an
dem ich das Spiel gucken konnte.
Ich
stand von meinem Stuhl auf, schaute mir den Alten an und sagte:
„Sir,
ich hatte nicht die Ehre, Sie zu kennen, aber das möchte ich auch
nicht mehr. Ich möchte nur das Spiel ungestört zu Ende gucken und
das scheint Sie zu stören. Das Niveau eines Menschen kann man daran
messen, wie er mit einem Unbekannten umgeht."
Dann
ging ich.
Hinter
meinem Rücken hörte ich den alten Mann weiter schimpfen. Am Ausgang
holte mich einer seiner Begleiter ein und sagte zu mir auf Englisch:
„Ich
bitte Sie, sein Verhalten zu entschuldigen!"
Seine
Stimme klang melodisch und sein rundes Gesicht mit kleinen Augen
machte auf mich den Eindruck eines Geschäftsmannes.
"Wie
heißt der böse Greis?", fragte ich entgeistert. Nur 45 Minuten
vom Spiel konnte ich mir anschauen und währenddessen musste ich die
dunkle Seite eines Unbekannten ertragen.
„Omar
Sharif", flüsterte er mir zu.
Ich
nickte nachdenklich. Um ehrlich zu sein, kannte ich diesen Namen
nicht und wollte mich im Moment nicht blamieren und das offen
zuzugeben.
„Und
vielen Dank, dass Sie nicht die Polizei gerufen haben!", fügte
der Mann hinzu bevor er sich verabschiedete.
Mit
dieser Dankbarkeit konnte ich in diesem Moment wenig anfangen. In
Bulgarien war es üblich, dass wenn Menschen sauer aufeinander waren,
sie sich böse beschimpften, damit alles gesagt wird und Ruhe und
Freundschaft wieder hergestellt werden. Niemand wäre auf die Idee
gekommen, die Polizei anzurufen, und würde jemand das versuchen,
würden die Bullen wahrscheinlich gar nicht kommen wollen. Später am
Abend machte mich ein Mitbewohner in der WG meines Studentenwohnheims
darauf aufmerksam, dass es in Deutschland eine Art Preisliste für
jedes Schimpfwort gibt, das gegen dich ausgesprochen wird. Für
Arschloch zahlte man zum Beispiel eine Strafe von 70 Euro. Waren
„motherfucker“ oder „little bastard“ dem Arschloch an
Bedeutung gleich, hätte ich an diesem Abend 700-800 Euro kassieren
können.
Ich
fand keine andere Bar, in der das Spiel übertragen wurde, und musste
enttäuscht nach Hause gehen. An diesem Abend verpasste ich nicht nur
die Möglichkeit, Maradona bis zum Ende zu schauen, aber auch gutes
Geld zu machen. Vielleicht konnte ich daraus lernen und ein kleines
Geschäftsmodell daraus machen. In die Restaurants feiner
Hotelanlagen zu gehen, prominenten Menschen die kalte Schulter zu
zeigen und dann, wenn sie mit Schimpfen anfangen, alles auf dem Handy
aufnehmen, Polizei anrufen, Anzeige erstatten und kassieren. Nur war
ich mir nicht sicher, ob die Stars so viel Kontakt zu mir suchen
würden, um diese Idee zu realisieren.
Zu
Hause angekommen recherchierte ich über den alten Mann: Er war in
Ägypten geboren, obwohl er aus einer libanesisch-syrischen Familie
stammte, studierte Physik und Mathematik bevor er mit dem Schauspiel
anfing. Eine vielseitig entwickelte Persönlichkeit. Neben Schauspiel
machte er professionell bei Bridge-Olympiaden mit, besaß acht Pferde
und beteiligte sich am Rennbahn-Sport. In den 60er Jahren hatte er
den Höhepunkt seiner Schauspielkarriere als „Doktor Schiwago“ im
gleichnamigen Film und als „Sherif Ali Ibn El Kharisch“ in
Lawrence von Arabien. Seitdem waren 30 Jahre vergangen, in denen er
keine großen Preise als Schauspieler gewonnen hatte. Vielleicht war
das die Ursache für seinen Frust.
Er
jettete durch die Welt, eroberte die Herzen der schönen Damen,
verdiente durch seine Filme viel, was er auch durch seinen
kostspieligen Lebensstil verspielte.
Sein
rastloser Geist hatte kein Zuhause. Meistens übernachtete er in
Hotels. Vielleicht empfand Omar Sharif das Hotelrestaurant als sein
privates Wohnzimmer und erwartete deswegen, dass alle Gäste ihn wie
einen Gastgeber behandeln, dachte ich über mögliche Ursachen seines
Verhaltens?
Oder
war er so von sich überzeugt und an die Aufmerksamkeit und
Bewunderung seiner Umgebung gewohnt, dass er nicht annehmen konnte,
dass jemand ein Fußballspiel einer Unterhaltung mit ihm vorzog?
Oder
erinnerte ich ihn mit meinen 20 Jahren und der Besessenheit, mit der
ich das Fußballspiel verfolgte, an seine Jugend, die er nie
zurückholen konnte?
Oder
war das eine Mischung aus allem?
Ich
entschied mich, ihm einen Brief zu schreiben und ihm die Möglichkeit
zu geben, dass wir uns in Ruhe austauschen und in Frieden
auseinandergehen. Bestimmt hatte er auch viele gute Seiten und ich
konnte viel von so einem Menschen und seinen Erfahrungen lernen. Das
tat ich und gab am kommenden Tag den Brief an der Hotelrezeption ab.
Er
meldete sich aber nicht zurück.
An
einem der kommenden Abende sagte mein Mitbewohner zu mir:
„Dein
Kontrahent ist beim Gottschalk."
Einige
Jahre danach las ich in der Zeitung, dass eine Parkplatzwächterin
den USA ihn wegen Beleidigung und körperlicher Gewalt angeklagt
hatte und Omar Sharif an sie als Strafe 318.000 US zahlen musste.
Also war das doch eine gute Geschäftsidee, Stars zu provozieren und
dann zu kassieren.
Später
lernte ich seine Filme kennen. In einem seiner letzten Filme
„Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ spielte er in den
alten, weisen Mann, der das Leben philosophisch sah und seine
Weisheit mit einem Jungen teilte. Damit erlangte er wieder den
Erfolg, den er so lange vermisst hatte.
„Konnte
er Ruhe und Frieden in seinem Geist wirklich am Ende seines Lebens
finden?", fragte ich mich. „Oder war das nur wieder ein gutes
Schauspiel?"
Spätestens
jetzt, nachdem er bereits im Jenseits ist, war er hoffentlich soweit.
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