Miss Italien


Miss Italien
 
Es war dunkel. Die nasse Kälte ging mir unter die Haut. Der Puff lag in einem Hinterhof in Berliner Arbeiterviertel Wedding. Die Straße war gepflastert und man musste aufpassen, nicht auszurutschen. Eine Straßenlaterne warf ihr spärliches Licht auf den Eingang. Das Haus war grau und hatte drei Etagen. Die Tür war auf und ich trat hinein. Eine Welle von Musik und Wärme kam auf mich zu. Ein Akkordeonspieler saß auf einem braunen, gepolsterten Sessel im Erdgeschoss und sang russische Liebeslieder. Er hatte lange, lockige, weiße Haare und trug eine schwarze Weste über seinem weißen Hemd. Er war blind.
Befinde ich mich wirklich im Schlachthaus der Liebe?!", fragte ich mich. So hatte Victor Hugo vor vielen Jahren das Bordell bezeichnet. Es gab einen roten Teppich und man konnte durch die Etagen spazieren und sich die Mädchen anschauen. Die Vertreterinnen des ältesten Gewerbes saßen in ihren Zimmern. Sie waren komplett angezogen und gut geschminkt. Der Geruch der Lust mischte sich mit dem ihrer Parfüms und löste bei mir Phantasien aus, was alles da bereits passiert war. An den Wänden hingen riesige Fotos von den Prostituierten, die ein israelischer Fotograf geschossen hatte. Man konnte mit den Mädchen reden und die Bilder kaufen.
Ich war bereits fast 10 Jahre lang in Berlin und oft in der Künstler- und Kulturszene unterwegs. Das war aber eine der außergewöhnlichsten Ausstellungseröffnungen in meinem Leben. Dort traf ich sie. Die Kuratorin.
Eine Dame, Mitte 50, elegant, in hellen, weichen Farben angezogen, mit einem sanftmütigen Lächeln und einer Brille mit ausdrucksstarkem, hellbraunen Rahmen. Sie hatte viel natürliche Schönheit. Ihre Aura war von Licht umgeben. Es gibt diese Art von Menschen, die ohne etwas machen zu müssen, einfach durch ihre Präsenz viel Würde ausstrahlen. Sie gehörte dazu.
Die ehemalige Miss Italien.
Ein bulgarischer Freund stellte uns vor. Er hatte sie zuvor mit ihren Kindern fotografiert und mir erzählt, dass sie in den 70er Jahren die Krone für die schönste Frau Italiens trug, auf der ersten Modenschau vom Gianni Versage lief, an vielen spannenden Orten der Welt wie New York, Paris und Mailand modelte , bevor sie sich in Berlin niederließ und eine Familie gründete.
Die Energie stimmte und ich blieb mit ihr in Kontakt. Ich traf sie meistens per Zufall auf verschiedenen Kulturevents und es machte mir immer Freude, in der Nähe dieser positiv denkenden und viel wissenden Frau zu sein.
Es vergingen einige Jahre. Eine Freundin von mir zog aus Italien nach Berlin, die auch lange international gemodelt hatte, und ich wollte die beiden einander vorstellen. Wir trafen uns in einem kleinen italienischen Café direkt an der U-Bahn-Station „WeinmeisterStraße“. Das Café war voll. Viele Touristen waren da und wir hatten Glück, einen kleinen Tisch im hinteren Raum zu finden.
Die beiden Damen fanden sofort ein gemeinsames Thema und sprachen netterweise auf Englisch, damit ich an ihrer Unterhaltung teilhaben konnte.
Ich bin jetzt drei Monate lang hier und nicht das graue Wetter macht mir in Berlin so sehr zu schaffen, sondern die absolute Abwesenheit jeglicher Aufmerksamkeit seitens der Männer", beschwerte sich Alexandra. Sie hatte die 40 überschritten und hatte mit ihrem Partner in Berlin wie viele andere Südeuropäer Eigentumswohnungen gekauft. Ihre Stimme klang weich. Ihre dunklen Augen strahlten Traurigkeit aus.
Wisst Ihr, ich habe eine Freundin, die zur Habilitation von Rom nach Berlin gezogen war. Sie erzählte mir, dass sie zu Weihnachten zum ersten Mal zu ihrer Familie zurückflog. Als sie am Flughafen „Fiumicino“ landete und einen Espresso bestellen wollte, begrüßte der Barkeeper sie mit "Bella". Dann ist sie in Tränen ausgebrochen! So sehr soll sie unter der fehlenden Aufmerksamkeit in Berlin gelitten haben. Nach meinen ersten drei Monaten in Berlin kann ich das gut nachvollziehen."
Dann war es am Tisch für einige Sekunden still. Alexandra hielt ihre langen, schwarzen Haare mit einem Pferdeschwanz zusammen und trug einen schwarzen Body, der ihren sportlichen Körper betonte.
Wenn man auf der Welt viel unterwegs ist, gewöhnt man sich an eine Art Aufmerksamkeit seitens der Männerwelt", setzte sie ihre Rede fort.
Es sollte nicht unbedingt so expressiv wie in Italien sein, wo die Autos hupen, die Scooter-Fahrer anhalten und Dich mitnehmen möchten, aber mit einem netten Blick oder mit einem Lächeln wäre der Tag für mich hier genießbarer. Schließlich behauptet man, dass Berlin die Welthauptstadt der Kreativen wäre..."
Ob man Berlin als die Welthauptstadt der Kreativen sehen kann...", wiederholte Ex-Miss Italien langsam, als ob sie darüber nachdenken würde, ob das stimmte. Sie hatte einen klassischen, weißen Hut auf und ihre Augen schauten durch die Brille nachdenklich.
Es gibt einen großen Unterschied, wie wir in Italien und wie die Frauen hierzulande auf die Aufmerksamkeit der Männer reagieren", fügte sie hinzu. Sie sprach deutlich und ihre Stimme fühlte sich mit ihrer Fülle wie Kakao an.
Vor einigen Tagen wurde an der Wand einer Berliner Hochschule ein Gedicht entfernt, da sich die Frauen dadurch sexistisch angegriffen fühlten..."
Gab es viel Erotik darin?", fragte Alexandra neugierig.
Man kann es meiner Meinung nach nicht als erotisch bezeichnen...", antwortete Miss Italien.
Avenidas
avenidas y flores
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flores y mujeres
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avenidas y flores y mujeres y
admirador"
Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen/Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer", übersetzte ich mir das gedanklich ins Deutsche.
Wie schön! Hört sich wie Lorca an", sagte Alexandra.
Gomringer – ein bolivianisch-schweizer Dichter – hat es geschrieben..."
Was stimmte damit nicht?", fragte Alexandra.
Für einige deutsche Frauen war die Grenze des guten Benehmens mit dem Wort „Bewunderer" überschritten und das Gedicht wurde nach heftigen Protesten wegen Sexismus übermalt."
Oh mein Gott! Wirklich?! Welche Frau mag es nicht, bewundert zu werden?! Die deutschen Männer scheinen es nicht so richtig leicht zu haben", stellte sie fest.
Eine Art Aufmerksamkeit deutschen Frauen gegenüber zu zeigen ist oft ein riskantes Unternehmen", mischte ich mich ein. Das Thema hatte mich jahrelang beschäftigt und ich entschied mich, mit den schönen Italienerinnen meine Erfahrung als Mann in Deutschland zu teilen:
Ich könnte Euch von meinen ersten Versuchen erzählen, deutschen Frauen Aufmerksamkeit zu schenken. Dann könntet ihr vielleicht besser verstehen, warum bewundert zu werden in Deutschland nicht unbedingt beliebt ist..."
Bin ganz Ohr!", forderte mich Alexandra auf. Im Hintergrund war die Musik von Chelentano zu hören. Seine fröhliche Stimme mischte sich mit den Gesprächen der Touristen in unterschiedliche Sprachen. Ich erkannte eine lustige Kombination aus Spanisch, Japanisch und Russisch und legte los:
Es war in der U-Bahn. Ich saß da und auf die gegenüberliegende Bank hatte sich eine sehr hübsche Blondine hingesetzt. Es war ein heißer Tag und ich war 19. Sie hatte schöne, blaue Augen, trug einen Jeansminirock, der ihre schönen Beine großzügig zur Schau stellte, und ein enges weißes T-Shirt, so dass man das Piercing an ihrem Nabel bemerken konnte. Ein Tattoo in Form einer feinen Rose war kunstvoll an ihren rechten Knöchel gemalt. Ich dachte, dass sich mein Umzug von Bulgarien nach Deutschland allein wegen solches Anblicks gelohnt hatte..."
Und? Hatte es sich gelohnt?", fragte Miss Italien mit einem Lächeln.
"Na ja – in Bulgarien ist es so: Wenn sich ein Mädchen Dir gegenüber im Bus oder Zug hinsetzt und Dich zweimal anschaut, wird das als Zeichen des Interesses interpretiert. So kämpfte ich entschieden gegen meine Schüchternheit und suchte fieberhaft nach passenden Worten, mit denen ich die blonde Schönheit ansprechen konnte. Sie war atemberaubend sexy und ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden, als sie mir die Frage stellte:
Wat kiekst Du denn so blöde?"
Miss Italien lachte. Alexandra schüttelte mit ihrem Kopf. Ich erzählte weiter:
Zuerst verstand es nicht so richtig, was sie damit meinte, da ich die Berliner Mundart nicht so verstehen konnte. Die Blondine setzte aber Kopfhörer auf und an ihrem abweisenden Blick merkte ich, dass sie an einem Gespräch mit mir nicht so richtig interessiert war... "
Sie konnte nicht zulassen, bewundert zu werden...", versuchte Alexandra es zu verstehen.
Ja, der Admirador – der Bewunderer zu sein wird hierzulande nicht als etwas Gutes angesehen – deswegen wurde das schöne Gedicht entfernt und deswegen muss man als Frau Mitgefühl für die deutschen Männer und ihre Ängste vor Abweisung entwickeln!"
Für eine Weile war es an unserem Tisch wieder still. Als ob jeder mit seinen Gedanken beschäftigt war...
Was denkst Du darüber nach?", fragte ich die Schönheitskönigin Italiens. Schließlich war sie so lange hier und hatte auch einen deutschen Mann geheiratet.
Ich denke, das Problem in Deutschland ist, dass die Menschen in ihrer Kindheit zu wenig Liebe und Aufmerksamkeit seitens ihrer Eltern erfahren und deswegen Probleme haben, das als Erwachsene weiterzugeben", antwortet sie.
Dazu kommt noch, dass die Regeln in diesem Land meistens wichtiger als der Mensch sind", fügte sie hinzu.
Wie meinst du das?", fragte Alexandra.
Oft konnte ich hier auch beobachten, dass die Menschen hier lieber einer von Anderen aufgesetzten Regel folgen als mit ihrem eigenen Kopf oder Herz zu agieren.", versuchte ich eine Erklärung abzugeben.
Ich bin in Berlin seit 17 Jahren...", ergriff Miss Italien wieder das Wort.
17 Jahre lang wohne ich im gleichen Haus im Charlottenburg und gehe täglich zu einem kleinen Supermarkt in seiner Nähe einkaufen. Dort werde ich seit 17 Jahren von derselben Verkäuferin bedient und wisst ihr, was mir letzte Woche da passiert ist?"
Die Verkäuferin hatte dich wegen Diebstahls von Nahrungsmitteln angezeigt…", scherzte ich.
Nein, so weit ging es nicht...", lächelte Miss Italien.
Was ist passiert?", fragte Alexandra interessiert.
Ich hatte kein bares Geld dabei, wollte mit meiner Kreditkarte zahlen und die Dame, die mich seit 17 Jahren bedient, hat nach meinem Personalausweis gefragt."
Wie hast Du darauf reagiert?"
Ich fragte sie, ob sie mich nicht kennen würde..."
Und was hat sie geantwortet?"
Ich kenne Sie schon, aber so ist die Regel!"
Seht Ihr?! Das blinde Befolgen von Regeln macht den Menschen zu schaffen!"
Alexandra schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht fassen. Ich konnte mir alles vorstellen. Täglich erlebte ich Szenen in Berlin, bei denen ich nicht überlegen musste, ob ich weinen oder lieber lachen sollte.
Aber wären wir nicht in Berlin, wäre eine solche Begegnung wie unsere nicht so einfach möglich gewesen!", versuchte ich das Gespräch in eine positive Richtung zu lenken.
Darf ich als Bulgare ein wenig das Gesicht der Offenheit der deutschen Hauptstadt und der multikulturellen Verständigung aufpolieren und die zwei hübschen, italienischen Damen zu einem Kaffee, Prosecco oder vielleicht zu einem Glas Grappa einladen?", fragte ich in die Runde.
Sie lächelten mich an und nahmen meine Einladung an. Als ich aufstand und zur Bar-Theke ging, setzten sie automatisch ihr Gespräch auf Italienisch fort. Eine andere Energie erfüllte den Raum. Die Wärme und die Emotionalität mischten sich mit der Melodie und erfüllten mein Herz mit Freude.

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