Die Rute des Weihnachtsmanns
Die Rute des Weihnachtsmanns
Berlin ist eine liberale Stadt.
„Leben und leben lassen“, sagte vor vielen Jahren Friedrich
der Große, und das hat sich als eine Art Motto der Stadt etabliert. Das zeigt
sich in vielen Aspekten des Berliner Lebens. Einer davon ist das freie Ausleben
der Sexualität. Aus meiner Jugend in Bulgarien war ich es
nicht gewohnt, Männer zu sehen, die in der Öffentlichkeit Händchen
hielten oder sich an den Po fassten, geschweige denn küssten oder öffentlich
heiraten durften. In Berlin war
das ganz normal. Manchmal fragte ich mich, ob die Anzahl der
schwulen Männer in dieser Stadt die Anzahl der Heteros überstieg. In Berlin
durfte der Bürgermeister vor einigen Jahren in aller Öffentlichkeit sagen: „Ich
bin schwul, und das ist gut so.“ In Bulgarien würde eine solche Aussage einen
hochrangigen Politiker wahrscheinlich das Amt kosten.
Als ich einen vorweihnachtlichen Auf trag von der
Studentenarbeitsvermittlung bekam, ahnte ich nicht, dass ich mit dieser Welt in
Berührung kommen würde. Auch dieses Telefongespräch verlief wie gewohnt. Die
Mutter nannte mir den Namen des Kindes. Sie sagte mir, dass der beste Freund
ihres Sohnes im Kindergarten Hans hieß und sein
Hamster Helmut. Ihr Sohn solle in Zukunft zeitig ins Bett gehen
und seine Zähne allein putzen. Ich notierte mir alles fleißig in mein Goldenes
Buch, aus dem ich bei den Familien
vorlas.
Es war der Tag vor Weihnachten, mein erster Auf trag in
diesem Jahr, und ich sollte um 19 Uhr da sein. Manche Familien bestellten den
Weihnachtsmann am 23., um die
Zeit der Bescherung selbst bestimmen zu können. Die Wohnung
der Auftraggeberin lag weit entfernt, und ich musste mit der S-Bahn fahren. Ich
fragte sie deswegen, ob
ich mein Weihnachtsmannkostüm im Treppenhaus anziehen könne.
„Gar kein Problem!“, antwortete die höfliche Damenstimme.
„Wir haben sehr freundliche Nachbarn. Bei ihnen zu Hause
könnten Sie sich in aller Ruhe umziehen. Ich kümmere mich darum, dass sie
informiert sind, und glauben
Sie mir, die beiden werden sich freuen, wenn der
Weihnachtsmann
vorbeikommt!“
Es war kalt und dunkel in Berlin. Die Straßen waren menschenleer.
Ich hatte meinen Weihnachtsmannanzug, den Bart, eine weiße Perücke und das
Goldene Buch in meinen
Geschenkesack gepackt. Zwanzig Minuten vor meinem Auftritt
war ich bereits im Haus, einem sanierten Altbau.
Ich klingelte bei den Nachbarn. Ein Mann Ende fünfzig, der
wie ein höflicher, vielleicht ein wenig zu höflicher Kater aussah, öffnete die
Tür. Er hatte einen gelben Bademantel
an und sah so entspannt aus, als ob er davor lange in der Badewanne
gelegen hätte.
„Ach, wie lange haben wir schon auf Sie gewartet, mein
lieber Weihnachtsmann!“, begrüßte er mich und bat mich herein.
„Danke!“, erwiderte ich sachlich, wusste aber nicht, wieso
er auf mich gewartet hatte. Ich war ja von der Familie gegenüber bestellt
worden.
„Kommen Sie doch herein! Kommen Sie einfach herein! Legen
Sie Ihren dicken Wintermantel rasch ab. Ach, lassen Sie mich Ihnen helfen!
Schön sehen Sie aus! Groß und
muskulös, so habe ich mir einen richtigen Weihnachtsmann vorgestellt.“
„Danke, danke!“, sagte ich. Ich wusste, dass man auf
Komplimente mit “danke“ antworten sollte. Gleichzeitig war mir ein wenig
unheimlich, wie mich dieser alte Mann mit dem schelmischen Blick und dem leicht
zufriedenen Schmunzeln im Gesicht mit Komplimenten überschüttete.
Ich schaute mich in der Wohnung um und entdeckte zuerst einen
Kronleuchter in Form eines männlichen Glieds. Er war bestimmt sechzig cm groß
und hing locker in der Mitte
des Wohnzimmers. Er bestand aus drei Lampen. Zwei
symbolisierten die Eier und die dritte den Pimmel. Plötzlich spürte ich eine
große Hand auf meiner Schulter. Sie kam
von hinten. Solange es meine Schulter und nicht mein Hintern
war, war ich bereit es zu akzeptieren. Ich drehte mich schnell um.
„Darf ich Ihnen meinen Freund vorstellen? Das ist Lorenzo!“
Lorenzo war bestimmt zwanzig Jahre jünger. Er sah wie eine
griechische Skulptur aus. Er war an die 185 cm groß und machte den Eindruck,
als ob er die meiste Zeit im Fitnessclub
verbringen würde. Er trug einen gepflegten Vollbart und ein
aufgeknöpftes, weißes Hemd, das einen großen Teil seines glattrasierten
Oberkörpers zur Schau stellte. Der Duft seines Parfüms war süß, und er hatte viel
davon aufgetragen.
Unter meinen Füßen spürte ich etwas Weiches. Ich schaute
nach unten auf einen herrlichen Teppich. Darauf waren in der Tat Figuren aus
der Antike abgebildet. Nackte
männliche Gestalten, die sich gegenseitig anfassten. Ich
wusste, dass es in der griechisch-römischen Antike einen ausgeprägten
Phalluskult gab. Vielleicht war Lorenzo
ein Grieche. Seinem Namen und Äußeren nach vielleicht doch
eher ein Italiener, aber das ging mich nichts an. Ich musste meine Gedanken
sammeln und mich auf meinen
Auf tritt beim Nachbarskind vorbereiten.
„Dürfen wir Ihnen einen Whiskey, Cognac oder vielleicht ein
Glas Champagner anbieten?“, fragte der alte Kater mit festlicher Stimme.
„Danke – ich muss mich schnell umziehen, um zu Ihren
Nachbarn zu gehen.“
„Das hat Zeit, lieber Santa Claus! Alles im Leben hat seine
Zeit! Nicht jeden Tag ist der Weihnachtsmann höchstpersönlich bei uns zu
Besuch, und das müssen wir gebührend
Feiern“, sagte der Alte und machte eine Flasche Champagner auf.
„Das ist nett von Ihnen, aber ich habe wirklich keine Zeit.
Das Kind Ihrer Nachbarin wartet auf mich!“, wiederholte ich.
Der Alte schien das zu überhören und schenkte drei Gläser
Champagner ein.
„Lange haben wir auf so eine Weihnachtsüberraschung
gewartet“, sagte er und reichte
mir ein Glas.
Ich nahm das Glas entgegen und setzte es auf den Tisch, ohne
etwas davon zu trinken.
„Was werde ich denn noch alles als Weihnachtsmann erleben?“,
fragte ich mich insgeheim.
Dieser Job erlaubte mir, in die Wohnungen wildfremder Menschen
zu spazieren und für einige Minuten Teil ihres Lebens zu sein. Das waren
Realitäten, mit denen ich
höchstwahrscheinlich sonst nie in Berührung gekommen wäre.
Einerseits empfand ich das als Bereicherung. Andererseits musste ich schauen,
wie stark ich in diese anderen Leben involviert werden wollte. Viele Familien
bestellten den Weihnachtsmann in der Hoffnung, mangelnde Harmonie dadurch zu
ersetzen. Viele Kinder bekamen viel zu
viele Geschenke. Die vom Berufsleben gestressten Eltern wollten
so ihre fehlende Aufmerksamkeit kompensieren. Es hatte schon alleinerziehende
Mütter gegeben, die mich
nach meinem Auf tritt bei ihren Kindern auf ein Glas Sekt eingeladen
hatten, und nun bot mir dieses schwule Pärchen Champagner an.
Um als Weihnachtsmann zu arbeiten, musste man eine Schulung
durchlaufen, die von der Arbeitsvermittlung meiner Uni organisiert wurde. Eine
der Regeln war, dass man
bei den Familien keine alkoholischen Getränke annehmen durfte,
denn ein betrunkener Weihnachtsmann würde bei den Kindern nicht seriös rüberkommen.
„Darf ich mich bei Ihnen umziehen?“, wiederholte ich meine
Frage.
„Aber natürlich, lieber Weihnachtsmann – Sie können sich
gerne bei einem Glas Champagner umziehen!“, antwortete der Alte und lächelte
mich an.
„Wir würden Ihnen gerne dabei zuschauen, wenn Sie nichts
dagegen haben“, fügte er hinzu und setzte sich mit Lorenzo auf ein großes Sofa.
„Meine Herren, ich bin als Weihnachtsmann für das Kind Ihrer
Nachbarn und nicht für eine Striptease-Show bei Ihnen bestellt worden!“, wollte
ich den beiden erklären, aber ich musste cool bleiben und professionell wirken.
Mir fielen die Regenbogenfarben der Vorhänge auf. Die beiden stießen an, gaben
sich einen kurzen, saftigen Zungenkuss und schauten mich erwartungsvoll an.
Mir war zwar schon zu Ohren gekommen, dass der Weihnachtsmann
in der schwulen Szene eine populäre Figur war und einen Spielraum für erotische
Träume bot, ich hatte das aber bislang in meinem Berufsleben als Santa Claus
nie erlebt.
Wenn ich weiter höflich blieb, würde ich es nicht rechtzeitig
zu meinem Auf trag schaffen.
Der Alte zündete ein paar Kerzen auf dem Tisch an und machte
das Licht aus.
„Ich werde mich nicht vor Ihnen umziehen!“, sagte ich entschlossen.
Jede weitere Höflichkeit meinerseits konnte in diesem
Augenblick missverstanden werden. Beide schauten mich an, ohne ein Wort zu
sagen, und rührten sich nicht vom Fleck. Ich wurde lauter:
„Wenn Sie jetzt nicht den Raum verlassen, werde ich ins
Treppenhaus gehen, um mich
da in Ruhe umzuziehen, und dann alles Ihrer Nachbarin
erzählen! Das ist mein Ernst!“
Ich musste jetzt klare Worte finden und Taten folgen lassen.
Ich machte ein paar Schritte Richtung Tür, das schien zu wirken.
„Bleiben Sie! Bleiben Sie ruhig hier, lieber Weihnachtsmann!
Ganz wie Sie wollen!“, sagte der Kater mit einem Seufzer und bedeutete Lorenzo
mit einem Kopfruck, dass sie den Raum verlassen sollten.
„Ich verstehe aber nicht, wieso man nicht ein wenig Spaß
haben darf!“, sagte er
noch.
„Schließlich ist Weihnachtszeit, und wir sollten nicht vergessen,
dass es das Fest der Liebe
ist …“
Lorenzo setzte sich in Bewegung, ohne ein Wort zu sagen. Ich
war mir nicht sicher, ob er Deutsch konnte. Das war auch nicht so wichtig.
Wichtig war, dass die beiden das
Wohnzimmer verließen und ich zügig das Weihnachtsmannoutfit
anzog.
Noch nie hatte ich mich bei meinen Weihnachtsmann-Einsätzen
so schnell umgezogen. Ich rückte meinen Bartzurecht, setzte meine rote Mütze so
tief auf, dass meine Augenbrauen versteckt blieben, und machte mich auf dem Weg
hinaus. Lorenzo und der Kater standen im gedämpften Licht des Korridors und
schauten mich schweigend an. Der Kater hatte immer noch seinen gelben
Bademantel und Lorenzo sein weißes, aufgeknöpftes Hemd an. Der Korridor war
ungefähr drei Meter lang und nicht mehr als einen Meter breit. Ich musste an
den beiden vorbei, um nach draußen zu gelangen.
„Augen zu und durch!“, sagte ich mir und ging mutig vorwärts.
„Wenn Sie nach dem Auf tritt bei den Nachbarn die Flasche Champagner
mit uns austrinken möchten, fühlen Sie sich herzlich eingeladen, lieber
Weihnachtsmann!“, hörte
ich den Alten sagen.
„Behalten Sie das Kostüm ruhig an. Wir könnten alle zusammen
eine Menge Spaß haben!«, flüsterte er mir noch ins Ohr.
„Seid artig, liebe Kinder, damit der Weihnachtsmann nächstes
Jahr wieder zu euch kommt!“, antwortete ich mit lauter, veränderter Stimme und
der ganzen Autorität des Weihnachtsmanns und machte die Tür auf.
„Ich mag nicht artig sein!“, meldete sich zum ersten Mal Lorenzo.
Seine Stimme war tief und fühlte sich wie Klebstoff an.
„Sonst kommt der Weihnachtsmann nächstes Jahr mit der Rute!“,
versuchte ich es zum Abschied mit einem witzigen Spruch.
„Ich möchte die Rute des Weihnachtsmanns testen!“, erwiderte
Lorenzo und packte den Kater temperamentvoll am Hintern.
„Genießt das Fest der Liebe, liebe Kinder! Frohe
Weihnachten!“, verabschiedete ich mich in Weihnachtsmann-Tonfall und machte die
Tür so schnell ich nur konnte hinter mir zu.
Ich atmete tief ein und aus. Eins war mir klar: Nach meinem
Auf tritt bei den Nachbarn würde ich dieses Haus in Windeseile verlassen.
Schließlich will der Weihnachtsmann auch in einer Stadt wie Berlin seine
Jungfräulichkeit bewahren.
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