Zinedine Zidane
Zinedine
Zidane
Es
war Berlinale Zeit. Ein ungewöhnlicher Film feierte seine Premiere.
Der Film hieß „Substitute" und wurde vom französischen
Fußballer Vikash Dhorasoo gedreht.
Vikash
Dhorasoo drückte während der Weltmeisterschaft in Deutschland die
Bank. Er war der Ersatzspieler für den Superstar Frankreichs,
Zinedine Zidane. Mit einer 8mm-Kamera hatte Vikash Momente von seinem
Leben innerhalb der französischen Mannschaft während der WM
aufgenommen.
Der
Kinosaal war voll. Der Fußballer kam mit 15 Minuten Verspätung und
wurde mit einer Mischung aus zurückhaltendem Beifall und einzelnen
Pfiffen begrüßt. Das Filmfestivalpublikum in Berlin tolerierte
keine Verspätung der Stars und bestrafte sie meistens auf diese
Weise. Vikash Dhorasoo war dunkelhäutig, wirkte schmächtig und ging
auf Krücken. Er reagierte darauf nicht und setzte sich hin. Als
Profifußballer ist man gegen solche Reaktionen immunisiert.
Fußballspieler bilden eine Berufsgruppe, die im Laufe ihrer relativ
kurzen Laufbahn so extrem mit den Tiefen und Höhen ihrer
Karriereentwicklung konfrontiert wird, dass man schnell erwachsen
wird und lernt, unabhängig von Lob und Tadel weiter den Beruf
auszuüben.
Er
erzählte im Film von seinen Ängsten und Zweifeln. Während der
ganzen WM kam er ein einziges Mal zum Einsatz und zwar in den letzten
10 Minuten eines unwichtigen Spieles gegen die Schweiz. Dabei hatte
er eine Torchance, die er vergab. Der Ball ging 10cm zu weit am Tor
der Gegner vorbei. 10 Minuten war er Ersatzmann für die Startnummer
10, Zinedine Zidane, der französischen Mannschaft, um doch das Tor
um 10cm zu verpassen! 10 war nicht seine Glückszahl.
Vikash
Dhorasoo war nicht Zinedine Zidane.
Ich
schaute mir den Film über die Emotionen des Ersatzspielers an und
fragte mich, wie sich der Star Zidane während der Weltmeisterschaft
gefühlt hatte. Er wirkte abgesehen vom Finalspiel gegen Italien
immer ruhig und konzentriert. Ich konnte mir aber vorstellen, was für
ein Druck auf ihm lastete, als Spielmacher der Franzosen bei so einem
Turnier zu agieren. Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich bei der
Jugendauswahl von Slavia Sofia in Bulgarien spielte. Ich konnte die
Nächte vor den wichtigen Spielen nicht ein Auge zumachen. Oft spürte
ich während des Spiels Erleichterung, wenn ich ausgewechselt wurde,
da ich wusste, dass ich nichts mehr falsch machen konnte. Ich war dem
Druck nicht gewachsen.
Ich
war auch nicht Zinedine Zidane.
Aber
wer war Zinedine Zidane?
Der
Mann ist ein lebender Fußballgott. Zum ersten Mal in der
Fußballgeschichte hat eine Person die Auszeichnung für den besten
Spieler, besten Trainer und besten Manager der Welt bekommen und das
war er. Er spielte bei Cannes und Bordeaux in Frankreich und wurde
schließlich, nach mehrjährigem Aufenthalt bei Juventus Turin, an
Real Madrid für 77,5 Millionen Euro verkauft. Zuerst war er bei Real
Spielmacher auf dem Feld. Danach arbeitete er als Manager und als
Co-Trainer bevor er den Trainerposten bei den Königlichen übernahm.
Er gewann als Spieler alles, wovon man im Fußball träumen konnte:
Nationalmeisterschaften und Supercups in Spanien und Italien, Europa
League, Champions League, UEFA Supercup, die Europameisterschaft und
die Weltmeisterschaft. Wenn man überlegt, dass seine Eltern
Kriegsflüchtlinge aus Algerien sind, die in den 50er Jahren nach
Frankreich flohen, kann man sich vorstellen, was für einen Weg
Zinedine durchmachte. Er wuchs in den Ghettos von Marseille auf und
war oft in seiner Kindheit wegen seiner nordafrikanischen Herkunft
Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt.
Was
mich bei ihm immer beeindruckte, war einerseits seine nachdenkliche,
eher introvertierte Art und andererseits seine blitzschnellen
Reaktionen auf dem Fußballfeld. Als die Football-Leaks seinen
Trainervertrag mit Real Madrid öffentlich machten, merkte man, dass
er nicht nur einen Mann mit hohen Visionen war, sondern auch Top
Berater um sich herumhatte, die für eine bemerkenswerte Erhöhung seiner Honorare sorgten. Im Vertrag
war vorgesehen, dass beim Gewinn der Champions League die vorgesehene
sechsstellige Prämie verdoppelt wird.
Solche
Gedanken beschäftigten mich, als der Film „Substitute" zu
Ende ging. Das Licht wurde eingeschaltet, aber niemand rührte sich
vom Platz. Das Interessante an der Berlinale aus meiner Sicht ist,
dass es immer nach dem Film eine Diskussion zwischen dem Publikum und
den Filmemachern gibt.
Vikash
wurde gefragt, ob er dem französischen Fußballbund und Zinedine
Zidane von seinem Film erzählt hatte und wie sie darauf reagiert
haben. Er antwortete, er hätte denen eine CD vom Film gegeben, aber
sie wären nicht dazu gekommen, den Film zu sehen, da sie zu viel zu
tun hätten.
Schließlich
spielte Frankreich in Deutschland eine exzellente Weltmeisterschaft
und Zinedine Zidane bekam den Preis als bester Spieler. Die ganze
Welt rätselte nach dem Finale wie der Italiener Marco Materazzi es
schaffte, ihn so aus der Fassung zu bringen, um die Kopfnuss von
Zidane und seine rote Karte zu provozieren. Wusste Materazzi davon,
dass die meisten roten Karten, die Zidane in seiner Karriere bekommen
hatte, nicht durch Fouls, sondern durch Provokationen verursacht
wurden? Hatte er wirklich die Schwester von Zidane so böse
beleidigt? Die Kopfnuss hat weltweit für Spekulationen gesorgt. Ein
Denkmal wurde mit der Szene geschaffen und in der Hauptstadt von
Katar ausgestellt. Zidane meinte, dass er lieber sterben würde, als
sich beim Italiener dafür zu entschuldigen.
Das
Schicksal gab mir die Chance, ihn persönlich einmal zu erleben. Das
passierte einige Jahre später und es war in der Schweiz. Die
Auszeichnungen für die besten Fußballspieler und Trainer wurden in
Zürich vergeben. Zidane hatte sie mehrmals bekommen, aber dieses Mal
nicht. Er saß in der Bar des Hotels Hyatt an einem Tisch mit fünf
anderen jungen, elegant angezogenen Männern und nippte an seinem
Getränk. Er trug einen dunklen Anzug und aufgeknöpftes, weißes
Hemd. Er musste oft den Raum verlassen, um zu telefonieren. Was mir
als erster Eindruck auffiel war, dass Zidane weder kleiner noch
größer aussah als man ihn aus dem Fernsehen kannte. Oft werden
Fußballer wie andere Prominenten in den Medien einen Kopf größer
als in der Realität dargestellt. Bei ihm traf das nicht zu. Er
wirkte genauso wie man ihn aus der Presse kannte: ruhig und bedacht.
Zu dieser Zeit war er noch nicht Trainer bei Real Madrid, sondern als
Manager tätig.
Die
Bar war nicht voll. Es gab einige freie Tische. Runde, asiatische
Lampenschirme sorgten für ein gedämpftes, warmes Licht. Die
Barsessel hatten eine helle, beige Farbe. Ich suchte mir einen Platz
an der langen Theke aus. Der Barkeeper trug ein weißes Hemd, hatte
Glatze und begrüßte mich auf Hochdeutsch. Die meisten Kellner und
das Pflegepersonal in der Schweiz kamen aus Deutschland.
„Die
Deutschen in der Schweiz sind wie die Polen in Deutschland“,
erzählte mir ein deutscher Bekannter, der auch als Ober schaffte.
„Sie
führen alle Jobs aus, die die Einheimischen nicht machen wollen.“
Ich
bestellte ein Glas Rotwein. Die Glatze nickte, nahm zügig ein
Weinglas in die Hand und schenkte mit gekonnten Bewegungen ein. Ich
nahm einen Schluck. Der Wein kam aus Tessin und hatte einen bitteren
Nachgeschmack.
Die
Bar bestand aus zwei Räumlichkeiten, die von einer langen Stufe
voneinander getrennt waren. Zidane saß mit seinen Freunden auf der
unteren Ebene. An einem Tisch auf der oberen Ebene saß ein Bekannter
von mir aus Zürich mit seinen Freunden. Ich hatte ihn vor einigen
Wochen auf einer Party kennengelernt. Er war klein, dünn und
herausgeputzt. Ich wusste, dass er als Manager von einem Jeansladen
in der Bahnhofsstraße tätig war. Er war immer sehr höflich und
hatte eine ausgeprägt feminine Art, was mich dazu brachte, ihn für
einen Gay zu halten.
Ich
hatte den großen Wunsch, Zidane persönlich zu begegnen und ihm die
Hand zu drücken. Er ging oft aus der Bar nach draußen, um zu
telefonieren. Dort war es ruhiger. Einmal ging ich auf die Toilette
und sah ihn allein vor dem Eingang der Bar stehen. Ich überlegte,
den Moment zu nutzen, um ihm gegenüber meinen Respekt zum Ausdruck
zu bringen. Dann dachte ich, wie oft er von solchen Typen wie mir
gestört wird, dass es ihm wahrscheinlich unangenehm sein wird und
verpasste die Chance. Zidane ging wieder ans Telefon und ich zu
meinem Glas Rotwein an der Bartheke zurück.
Umso
größer war meine Überraschung, als mein Schweizer Bekannter zum
Tisch von Zinedine Zidane ging.
Er
saß wieder da mit seinen Freunden und mein Bekannter flüsterte ihm
etwas zu. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich kannten und
beobachtete aufmerksam das Geschehen. Das Gesicht von Zinedine
verriet zuerst keine Emotion. Danach nickte er zustimmend und sagte
etwas zu seinen Freunden am Tisch. Sie machten daraufhin Platz für
einen neuen Sessel. Mein Bekannter schob den Sessel vom benachbarten
Tisch neben den Sessel von Zinedine. Seine Freunde mussten ein wenig
ihre Sessel auseinanderrücken, damit er sich neben den Star setzen
konnte. Er nahm sein Glas Champagner und erhob das Glas gegen das
Glas von Zidane.
Die
Grenze der Peinlichkeit wurde aus meiner Sicht stark überschritten.
Ich fragte mich nach der wahren Natur der Schweizer. Seit einem
knappen Jahr lebte ich bereits da und die Menschen machten auf mich
eher einen schüchternen und ängstlichen Eindruck. Die Schweizer
waren meiner Meinung nach ein kontaktscheues, gut betuchtes Volk, das
von sich immer behauptete neutral zu sein, immer aber immer diese
Neutralität im eigenen Interesse auslebte.
„Warum
kreisten solche kritischen Gedanken an die Schweiz und die Mentalität
ihrer Einwohner in meinem Kopf?", fragte ich mich. Der Grund
war, dass ich sauer war, dass sich mein Bekannter getraut hatte wozu
ich Lust, aber nicht den Mut hatte. Wie ein indisches Sprichwort
besagt, wenn man auf jemanden mit dem Zeigefinger deutet, zeigen die
drei Finger deiner Hand auf Dich. So nahm ich einen weiteren Schluck
vom Rotwein und beobachtete alles aus sicherer Distanz.
Die
Freunde von Zinedine ignorierten den Eindringling und unterhielten
sich weiter. Die Freunde von meinem Schweizer Bekannten holten ihre
Handys und machten zügig Fotos. Zidane rührte sich nicht und blieb
cool.
„Wow!",
dachte ich.
„Der
Mann hat wirklich Größe, dass er sich auf so ein Theater einlässt!"
Auf
dem Foto würde es dann so aussehen, als ob mein Bekannter mit dem
Superstar nach dem Ende der FIFA Ballon d'Or-Nacht in einer Bar den
Abend ausklingen lassen würde. Das ist wirklich ein gutes Foto für
die sozialen Netzwerke, die hungrig nach Stars und Klatsch waren. Als
die Fotosession vorbei war, konnte ich meinen Augen nicht trauen, als
sich einer der Freunde des Schwulen auf den Sessel neben Zidane
hinsetzte und von seinem Freund das Glas Champagner übernahm. Zidane
reagierte wieder nicht. Er blickte in die Kameras, als ob es das
Natürlichste auf der Welt wäre. Vielleicht war es auch das
Natürlichste auf der Welt eines Superstars, wenn er sich in der
Öffentlichkeit zeigte, dass er ständig auf Fotos mit wildfremden
Menschen posieren sollte. Was sich in der Bar des Hyatt Hotels in
Zürich abspielte, ging für mich aber über viele Grenzen hinaus.
Die Grenze des guten Benehmens. Die Grenze des Eindringens in die
Privatsphäre eines Menschen und, nicht an letzter Stelle, die Grenze
meiner Ängste vor Abweisung. Danach kam ein dritter Freund und setze
sich neben ihn. Ich dachte, bald wäre die Geduld von Zinedine
vorbei, aber ich täuschte mich. Seine Freunde machten Witze. Alle
lachten. Zinedine bewahrte seine ruhige Geisteshaltung. Ich
überlegte, ob er mitmachen würde, wenn ich mit meinem Glas Wein
dazu stoße. Obwohl wir im gleichen Alter waren, schaute ich zu ihm
auf und hatte viel zu viel Respekt vor seiner Person, was mich
blockierte.
Dann
kam die Blondine. Sie war großgewachsen und vollbusig. Ihre Haare
erreichten ihren Po. Sie gehörte auch zu der Gruppe der Schweizer.
Ein enges weißes Kleid betonte ihre üppigen Formen. Sie lachte
laut, als sie sich neben den Star hinsetzte und umarmte ihn, als ob
sie sich schon lange kennen würden.
Peter,
ein Freund von mir, der auch bei Slavia Sofia spielte und es später
in der Schweiz soweit gebracht hatte, zweimal Torschützenkönig in
der ersten Liga zu werden, erzählte mir, wie er einmal in der Bar,
in der seine Mannschaft ihre Siege und seine Tore feierten, die nette
Bardame darauf angesprochen hatte, mit ihm auszugehen. Die hübsche
Schweizerin hatte daraufhin ihren Terminkalender herausgeholt und ihm
ein Date in 6 Wochen vorgeschlagen. Peter drehte sich um und ging
weg.
Peter
Alexandrov war auch nicht Zinadine Zidane.
Der
Bekanntheitsgrad eines Mannes korrelierte positiv mit der
Bereitschaft einer Frau, mit ihm mehr Zeit zu verbringen. Die
Blondine ließ ihre Hand über den Rücken von Zinedine streifen. Sie
hatte lange, dunkelrote manikürte Nägel. Ihre Hand ging langsam
über die Länge seines Rückens und streichelte am Ende sanft seinen
Hinterkopf, während die anderen sie von vorne fotografierten. Zum
ersten Mal sah ich eine Reaktion vom Superstar. Auf seinem Gesicht
breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. Schließlich war er auch
ein Mann. Er blieb aber schweigsam, nickte, als sich die Blondine und
die anderen bei ihm bedankten, und widmete sich weiter dem Gespräch
mit seinen Freunden, als ob nichts passiert wäre.
Für
ihn waren solche Szenen wahrscheinlich etwas Alltägliches. Ich
bestellte noch ein Glas Wein, stand auf und ging zum Tisch meines
Bekannten. Ich grüßte ihn, seine Freunde und die Blondine und
gratulierte ihnen für den Mut, so eine Aktion auf die Beine zu
stellen.
„Du
hast mir heute eine Lektion gegeben, wie man seine Wünsche in die
Tat umsetzen kann!", klopfte ich ihm auf die Schulter. Er lachte
zufrieden.
„Zidane
mochte Sie gerne – er hat ihre Streicheinheiten genossen!",
machte ich der Blondine auch ein Kompliment.
Sie
schmunzelte, so als ob sie Bescheid wusste, was für eine Reaktion
sie bei ihm auslöste.
Die
anderen zwei Freunde saßen apathisch da und beobachteten mich.
„Darf
ich einen Sessel nehmen und mich mit Euch fotografieren lassen“,
fragte ich spaßeshalber in die Runde, wünschte den Schweizern einen
schönen Abend und ging zur Bartheke zurück. Ich musste trinken und
nachdenken. Ich wollte mich an diesem Abend mit Hilfe des Alkohols
mit vier wichtigen Fragen konfrontieren:
1.
Wie oft bietet das Leben uns Chancen an, unsere Wünsche zu
realisieren?
2.
Wie oft halten uns unsere Zweifel und Ängste davon ab?
3.
Warum lösten das Talent und der Erfolg von Zidane bei mir eine
Bewunderung aus, die Distanz schaffte?
4.
War Neid eine natürliche Reaktion in solchen Fällen oder etwas, was
ich im Laufe der Zeit angelernt hatte?
Nach
einer Weile verließ mein Verstand das Tessiner Weinanbaugebiet und
mein Gaumen nahm einen sanften Anflug auf die Cognac Region in
Frankreich. Ich nahm einige Gläschen vom zauberhaften Getränk und
es dauerte nicht lange, bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
Ich
drehte mich um und sah Zinedine vor mir stehen.
„Dude,
habe ich dich nicht auf einem Werbespott von Lufthansa in der Senator
Lounge in Frankfurt französischen Wein trinken sehen?“, fragte er
mich.
„Ja,
ja! Das war ich. Es war kein Wein, sondern Kirschsaft, aber ich freue
mich riesig, dass Du mich erkannt hast“, nickte ich hocherfreut.
Dann
öffnete ich meine Augen und sah den kahlköpfigen Barkeeper vor mir
stehen. Meine Hand hing in der Luft vor ihm. Die Glatze schaute mich
müde an.
„Mein
Herr! Wir schließen!“, hörte ich ihn sagen.
„Zwei
Gläschen Wein und vier Cognacs machen 128 Franken zusammen.“
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