Vanga und der deutsche Filmproduzent
Vanga
und der deutsche Filmproduzent
Berlinale
ging zum Ende und so war es mit meiner Flucht aus der Realität. Ich
hatte mir zum ersten Mal eine Akkreditierung holen lassen und durfte
zu allen Filmvorstellungen umsonst rein. Das war angesichts der Fülle
des Programms beim besten Willen nicht machbar. Neben dem offiziellen
Wettbewerb liefen etliche andere Wettbewerbe, die auch nicht weniger
Interessantes zu bieten hatten. Ich schaute mir im Durchschnitt vier
Filme pro Tag. Ich lebte in einer Parallelwelt und das genoss ich.
Die graue Farbe Berlins im Februar war nicht mehr so bedrückend
spürbar. Umso mehr freute ich mich, als ich eine Einladung zu der
Abschlussgala des Festivals bekam. Das sollte die Krönung sein. Auf
der Einladung stand als Dress-Code sollten die Herren Smoking und die
Damen Abendkleider tragen. So lieh ich mir von meinem bayerischen
Nachbar, mit dem ich eine WG im Studentenwohnheim teilte, seinen
Smoking mit der Fliege aus. Er war gut mit solcher Kleidung versorgt,
da er Musik studierte und bereits in einem kleinen Orchester
spielte.
Die
Gala fand im Westin Grand statt, das als das beste Hotel im Ostberlin
vor der Wende galt. Der rote Teppich war ausgerollt. Die Beleuchtung
war durch die Scheinwerfer heller als beim Sonnenschein und gab mir
das Gefühl, zu dieser privilegierten Gruppe zu gehören, die etwas
Kreatives machten und dabei sehr gut verdienten. Ich fragte mich,
welche Hollywood Stars dabei sein werden und ob ich sie
wiedererkennen würde. Ich hatte Gwyneth Paltrow wenige Tage davor
nach ihrer Filmpremiere gesehen. Sie war auf der Leinwand hübscher
als im realen Leben.
Solche
Gedanken beschäftigten mich, als ich durch die breiten Treppen nach
oben ging. Im ersten Stock angekommen musste ich feststellen, dass
ich ein wenig zu spät war. Feinangezogene Menschen waren bereits an
Tischen platziert und mit dem Abendmahl beschäftigt.
"Hier
ist Ihr Platz!", brachte mich eine rote Uniform tragende,
langbeinige Dame zu einem Stuhl an einem langen Tisch. Am Tisch saßen
bereits Männer und Frauen, die ihr Essen genossen und dabei feine
Tischsitten zeigten. Ich erkannte unter ihnen keine mir von Filmen
geläufige Gesichter. Mein Stuhl war am Tischenden. Ich war neben
einem älteren Herrn platziert.
"Schönen
guten Abend!", begrüßte ich ihn freundlich und setzte mich
neben ihn hin.
Er
schaute mich aufmerksam an und grüßte zurückhaltend zurück.
Auf
anderen Berlinale Events war mir davor aufgefallen, dass die
Anwesenden in zwei Kategorien untergeordnet werden können: solche,
die in das Filmgeschäft einsteigen möchten und darauf angewiesen
sind, neue Kontakte zu machen und alte zu pflegen und solche, die
bereits im Geschäft tätig sind. Es war lustig das
Aufeinandertreffen dieser beiden Gruppen zu beobachten. Bei der
Kommunikation dazwischen konnte ich die Richtigkeit des bulgarischen
Sprichwortes bestätigen:
"Der
Satte glaubt dem Hungrigen nicht".
Mein
Vorteil war, dass ich weder zu einer noch zu der anderen Gruppe
gehörte.
Ich
breitete die weiße Stoffserviette auf mein Knie, wie es sich in den
guten Gaststätten gehörte, wünschte dem älteren Herrn kurz "Guten
Appetit" und fing mit dem Essen an. Ich war hungrig und die
Vorspeise beindruckte mich. Es war eine einzigartige Mischung
zwischen gerösteten Karotten und Zwiebelmarmelade. So etwas hatte
ich bis zu diesem Moment nicht probiert.
"Wo
sind Sie her?", fragte der Alte. Er hatte einen Schnauzer und
schaute mich mit seinen müden, Ochsenaugen. Die selbstsichere
Ausstrahlung und gesetzte Körperhaltung gaben mir zu denken, dass er
oft Gast auf solchen Events war und seinen Smoking nicht ausleihen
musste.
"Aus
Bulgarien"
"Bulgarien?!
Kennen Sie Vanga?"
"Jeder
Bulgare kennt Vanga!"
Vanga
galt als Heilige in Bulgarien. Als sie Kind war, wurde sie blind und
bekam nach den Legenden die Gottesgabe mit Menschen und Engeln im
Jenseits zu kommunizieren. Menschen aus der ganzen Welt strömten
dorthin, um nach ihrem Rat zu fragen. Sie blieb in ihrem kleinen Haus
im Dorf an der bulgarisch-griechischen Grenze leben und nahm kein
Geld für ihre Ratschläge an.
"Ich
traf sie persönlich", sagte der Mann.
"Wie
kommt das?", fragte ich und jagte auf meinem Teller ein gutes
Stück Lachs.
"Ich
bin Jude. Als Hitler an die Macht kam, musste ich mit meiner Familie
fliehen. Mein jüngerer Bruder gab mir damals Teil seiner Ersparnisse
und sagte:
Dieses
Geld ist dafür, damit wenn Du heiratest, Dir einen Kühlschrank
kaufen kannst. "
Der
Alte schwieg einige Sekunden und seine Augen bekamen einen traurigen
Glanz.
"Er
wurde als einziger von den Nazis erwischt und im KZ getötet. Jahre
später, als wir bereits in die damalige BRD zurückkehrten und mit
Filmproduktion beschäftigt waren, mußte ich für einen Dreh nach
Bulgarien. Mein bulgarischer Partner hat mich zu Vanga gebracht..."
Der
Mann schluckte. Er nahm das Glas Wasser in die Hand und ich sah einen
schweren, goldenen Ring an seinem Finger. Offensichtlich hatte ich
mit einem großen Tier zu tun. Zu einer privaten Audienz bei Vanga
durften nur hochrangige Politiker, etablierte Geschäftsmänner oder
andere Prominenten. Die Leute warteten monatelang bis zu einem Jahr
und obwohl sie blind war, wusste sie Bescheid und war nicht damit
zufrieden, wenn sie sich vorgedrängt hatten.
"Wissen
Sie, ich bin der letzte, der an so was glaubt", unterbrach der
Mann meine Gedankengänge.
"Aber
als wir dieses kleine Haus betraten, begrüßte mich diese kleine,
alte, blinde, schwarzangezogene Frau mit Kopftuch mich mit den Worten
:
"Dein
Bruder fragt, was mit dem Kühlschrank passiert ist?"
Der
Mann hat den letzten Satz auf Dorfsbulgarisch ausgesprochen und es
dauerte eine Weile, bis ich ihn verstehen konnte. Ich konnte es nicht
fassen: Auf der Abschlussgala der Berlinale saß ich neben einem
deutschen Filmproduzenten und er redete zu mir aufs Dorfsbulgarisch.
"Ihre
Worte prägten sich so stark in mein Gehirn ein, dass ich sie nie
vergessen würde! Noch laufen mir kalte Schauer meinem Rücken
herunter, wenn ich daran denke", schloss er seine Erzählung ab.
"Ihre
Geschichte überrascht mich keineswegs", antwortete ich. Vanga
hat auch meiner Familie geholfen, indem sie meiner Tante einen Arzt
empfohlen hatte, der meine Nichte operierte und dadurch ihr Leben
retten konnte.
"Lebt
Vanga noch?", fragte der Filmproduzent.
"Bestimmt,
aber nicht auf der Erde", lächelte ich.
"Ein
bulgarischer Journalist hat ihre letzten Tage gefilmt. Sie hatte
gesagt, dass sie müde war und bald gehen würde. Davor wollte sie
aber mit allen Geschenken, die Menschen ihr gemacht haben, eine
Kirche bauen lassen. Sie wissen ja, dass sie kein Geld von den
Menschen verlangte. Viele haben aber trotzdem Geschenke und Geld
gelassen. Sie hat den Ort, den Architekten, sowie den Maler bestimmt,
der die Ikonen malen sollte. Als alles fertig war, war die orthodoxe
Kirche mit der neuen Kirche ganz und gar nicht zufrieden"
"Wieso
das?"
"Die
Gesichter aller Heiligen waren darin nicht mit Schmerz, sondern mit
Freude erfüllt. Das war zu viel für die langbärtigen Priester der
bulgarischen Orthodoxie. Vanga war aber bestens vernetzt. Präsidenten
und Minister aus vielen Ländern hatten sich von ihr beraten lassen.
Paradoxal wie es ist: in einem sozialistischen Land, in dem auf
Papier die Grundsätze von Marx für die Religion als Opium des Volks
galt, war Vanga zugelassen, ihre Dienste anzubieten und als
Kontaktperson zum Übersinnlichen tätig zu sein."
"Aber
Ihr Tod kam nach der Wende oder?", fragte der Filmproduzent
interessiert.
Wir
saßen an einem Tisch, der bestimmt über 10 Meter lang war. Weiße
Decken und silberne Kerzenständer passten zum silbernen Besteck. Die
Menschen waren bereits mit ihrem Essen fertig und unterhielten sich.
Am anderen Ende des Tisches war eine Ehe dabei, ihr Ende zu finden.
Ich konzentrierte mich wieder auf unser Gespräch und nickte.
"Ja,
sie ist 1996 gestorben und ließ davor ihre Kirche bauen. Ihre
Beliebtheit unter den Menschen war zu groß, damit die orthodoxe
Kirche einfach "nein" dazu sagen konnte. So wurde im Film
das Treffen zwischen Vanga und dem Oberhaupt der orthodoxen Kirche in
ihrer Region gefilmt."
"Und?"
"Der
weißbärtige Mann stieg mit seinem langen, schwarzen
Gottesdienstgewand aus einem großen, schwarzen Auto mit Fahrer vor
ihrem kleinen Haus im Dorf aus. Er hatte sein Kreuzstab in der Hand
und ein großes Kreuz hing auf seiner Brust. Vanga begrüßte ihn
kurz, bot ihm einen Platz an und fragte:
"Wie
viel Leute waren heute bei Dir auf der Messe?"
"Zu
viel, um alle zählen zu können- bestimmt über 500",
antwortete er selbstbewusst.
"Zu
wie viel von ihnen hast Du persönlich geredet?"
"Ich
habe zu allen geredet"
"Ich
sage Dir eins- zu Dir in die Kirche kommen 500 Leute und Du hältst
Deine Predigt. Danach kommt jeder von diesen Menschen zu mir, um eine
Lösung für seine persönlichen Probleme zu suchen!", redete
sie auf ihn ein.
"Du
bist ein Gottesgesandter. Du musst süßer als Honig sein!",
fügte sie hinzu.
"Und-
was ist am Ende passiert? Wurde ihre Kirche anerkannt?", fragte
der Alte ungeduldig.
"Ja,
unter dem Druck der Regierung"
"Waren
Sie da?"
"Ja,
Sie müssen auch einmal vorbeischauen! Stellen Sie sich das vor: in
einer Gegend voller Mineralquellen, wo ihr Haus ist, steht diese
kleine, schöne, weiße Kirche voller Heiligen, die fröhlich und
sanftmütig Dich von den Wänden anschauen und nicht diese strenge,
gequälte und dramatische Blicken, die man in den Kirchen weltweit
trifft.""
"Lassen
Sie uns auf das Wohl dieser heiligen Frau trinken!", erhob der
Filmproduzent sein Glas.
"Möge
ihre Seele in Frieden ruhen!", lächelte ich ihn an und goss den
ersten Schluck Rotwein auf meinen Teller. So macht man in Bulgarien,
wenn man einen Toten in Erinnerung bringt. Der Filmproduzent schaute
mich misstrauisch an. In seinem Blick sah ich die feste
Entschlossenheit solchen Aberglauben keine Achtung zu schenken.
In
diesem Moment ging die Kerze vor uns von sich allein plötzlich aus.
Es gab einige Sekunden Schweigen.
Der
Filmproduzent nickte mehrmals, ergriff mit schneller Bewegung sein
Glas Wein und machte es mir mit zitternder Hand nach.
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