Zum Vorstellungsgespräch in Deutschland
Zum Vorstellungsgespräch in Deutschland
Dragomir
hatte sein Studium an der Humboldt Universität Berlin mit Auszeichnung
abgeschlossen. Nur im Fach Volkswirtschaftslehre hatte er kein „sehr gut“
erhalten, aber insgesamt hatte er einen Prädikatsabschluss von 2,1 erzielt. Es
war an der Zeit, den richtigen Arbeitgeber zu finden. Dragomir bewarb sich quer
durch Deutschland. Die Arbeitslage war nicht entspannt. Von zehn Bewerbungen
erhielt er durchschnittlich eine Einladung zum Vorstellungsgespräch.
So kam
auch die Einladung vom Speditionsunternehmen „Bauchmann und Söhne“, das in
Baden-Württemberg ansässig war. Sie suchten jemanden, der das Osteuropa-Team
verstärken sollte und luden nach zwei Telefoninterviews Dragomir zum
Vorstellungsgespräch in eine kleine Stadt in der Nähe der deutsch-französischen
Grenze ein. Dragomir zog sich seinen einzigen Anzug an und nahm ganz früh den
Zug. Es dauerte 6 Stunden bis er eintraf und er wurde erwartet. In einem Raum
saßen die beiden Geschäftsführer der Firma, ihre Assistentin sowie die
Personalchefin am Verhandlungstisch zusammen. Bei der Geschäftsführung handelte
es sich offensichtlich um Vater und Sohn. Der Jüngere sah mit seiner schmalen
Nase und dem geraden Haarschnitt genau wie der Ältere aus. Nur gab es einen
Altersunterschied von ca. 30 Jahren zwischen den beiden. Die Stimmung war
energiegeladen. Alle waren fein angezogen. Starke Neonlampen erhöhten die
Intensität des Tageslichtes. Dragomir versuchte, alle Fragen ruhig und sachlich
zu beantworten. Er durfte sich keine Fehler erlauben. Die Fragen waren immer
die gleichen und er hatte schon drei Bücher über die passenden Antworten
gelesen. Als das Gespräch zum Ende war, baten sie ihn kurz, draußen Platz zu
nehmen. Als er von der Assistentin der Geschäftsführung ins Zimmer
zurückgerufen wurde, lächelten ihn alle freundlich an.
„Wir
werden Ihnen einen Vertrag bei uns anbieten!", sagte der Alte.
Offensichtlich hatte er das Sagen.
„Und
zwar einen unbefristeten!", fügte der Jüngere hinzu.
„Das
freut mich sehr!", sagte Dragomir und sein Herz fing vor Freude an,
schneller zu schlagen. Er stellte sich vor, wie er am Abend stolz seinen Eltern
telefonisch über seinen Erfolg berichten würde und lächelte zufrieden. Seine
Eltern machten sich große Sorgen, dass er keinen passenden Job in Deutschland
finden würde.
„Sie
würden das erste Jahr bei uns ein Nettogehalt von knappen 1.500 Euro bekommen.
Steigerungsmöglichkeiten sind gegeben", sagte die Assistentin. Sie hatte
kurze, blonde Haare und einen Blick voller Ambition.
Das
kam wie ein Blitz aus dem heiteren Himmel für Dragomir. Er wusste, dass
Baden-Württemberg eines der reichsten Bundesländer war und dass die
Einstiegsgehälter einiger seiner Kommilitonen bei 5000 Euro lagen. Das war mehr
als das Dreifache von dem, was ihm gerade angeboten wurde. Er bewarb sich nicht
um einen Praktikantenplatz. Vielleicht hatte er etwas nicht richtig verstanden.
Oft war es so, dass er die Menschen in Deutschland akustisch nicht richtig
verstehen konnte, obwohl er sein ganzes Studium auf Deutsch erfolgreich
durchgezogen hatte.
„Verzeihen
Sie bitte. Wie hoch würde mein Einstiegsgehalt sein?", fragte er
vorsichtig und drehte seinen Kopf in Richtung der Assistentin.
„1.500
Euro plus unbefristeter Arbeitsvertrag!", kam die Antwort seitens der
Personalchefin. Eine Dame Mitte 50, die mit ihrer Brille und dem strengen Blick
wie seine Mathematik-Lehrerin aus der Grundschule aussah. Dragomir spürte eine
Welle der Enttäuschung in seinem Bauch. Er hatte so hohe Erwartungen gehabt,
dass er den Einstieg gut meistern konnte, und fühlte sich jetzt über den Tisch
gezogen. 1.500 Euro – das war in seiner Heimat Bulgarien ein gutes
Einstiegsgehalt, aber die Mieten kosteten da einen Bruchteil von dem, was er in
Deutschland zahlen musste. Geschweige denn Lebenshaltungskosten,
Versicherungsbeiträge, Transportkosten. Dragomir holte tief Luft. Die Worte kamen schnell über seine Lippen:
„Stellen
Sie sich vor, meine verehrte Damen und Herren, dass Sie ein Haus bauen
wollen... ", fing er an.
„Sie
sparen Geld, um sich ein Stück Land zu kaufen. Sie sparen Geld, um sich einen
guten Architekten zu leisten. Dann studieren Sie die verschiedenen
Möglichkeiten, das Haus einzurichten, und wählen die beste für Sie aus. Das
Haus ist nach 6 Jahren intensiver Arbeit und einem disziplinierten, sparsamen
Leben dann fertig. Dann klingelt jemand an Ihrer Tür und macht Ihnen den
Vorschlag, das Haus für 1.500 Euro zu kaufen...Und das noch unbefristet. Also
auf immer und ewig! So fühle ich mich jetzt bei Ihnen!"
Die
beiden Geschäftsführer schauten sich an, ohne ein Wort zu sagen. Die
Assistentin schaute auf ihre Uhr. Personalchefin schmunzelte. So eine bildhafte
Erklärung der enttäuschten Erwartungen eines Bewerbers hatte sie in ihrer
30-jährigen Laufbahn im Personalwesen noch nicht erlebt.
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