Mit Gerstenkorn in der Schweiz
Mit Gerstenkorn in der Schweiz
Ich lebte in Zürich. Für viele war es eine der schönsten Städte der Welt. Für mich war es eine der langweiligsten.
Es gab einen wunderschönen See, dessen Wasser so sauber war, dass man davon trinken konnte. Es gab einen Fluss, in dem man im Sommer herrlich schwimmen konnte. Es gab die Berge, deren weiße Gipfel man beim Schwimmen genießen konnte.
Es gab aber auch die vielen Banken, Versicherungen und andere Wirtschaftsunternehmen, die das Leben dieser Stadt prägten – und ihr die Aura der Langweiler verliehen.
Zürich war eine der teuersten Städte der Welt. Für eine Tasse Kaffee musste man fünf Franken zahlen. Um in Zürich ein gutes Leben führen zu können, musste man hart arbeiten. Ich hatte einen Job, der mir Stress bereitete.
Als Konsequenz kam der Gerstenkorn wieder heraus. Er kam immer wieder, um mich daran zu erinnern, mich und mein Leben nicht so ernst zu nehmen.
Ich wollte diesmal einen Heilpraktiker konsultieren. Einer dieser Mediziner, die die Zusammenhänge zwischen dem menschlichen Organismus und seiner Umgebung verstanden. Ich fand im Internet einige Adressen und wählte eine aus, die nicht weit von meiner Wohnung lag.
Der Heilpraktiker war jung, hatte klare blaue Augen, wenig Haare und trug keinen weißen Kittel, sondern ein kariertes Hemd und dunkelblaue Jeans. Er begrüßte mich freundlich, hörte mir zu, öffnete eine Kiste mit verschiedenen Kügelchen und ließ mich einige kleine Ampullen in der Hand halten. Dabei hielt er einen kleinen, dünnen Stab vor meinen Körper – und anhand der Schwingungen des Stabs bestimmte er, welche Kügelchen für mich geeignet waren und welche nicht.
Ich ging zu ihm dreimal, und jedes Mal gab es die gleiche Zeremonie: Kügelchen in der Hand halten, die Bewegungen des Stabs verfolgen – und dann verschreiben. Jedes Mal kostete es mich 60 Franken, da meine Versicherung die restlichen 120 übernahm.
Das Gerstenkorn verschwand nicht.
In dieser Zeit hatte ich die Nase voll von Zürich und spielte mit dem Gedanken, nach Berlin zurückzukehren. Ich habe Pro und Contra sorgfältig abgewogen, schrieb sogar alles auf einem Blatt auf, was dafür und dagegen sprach, konnte aber keinen Entschluss fassen.
In Berlin gab es keine Jobs – aber man brauchte auch nicht so viel Kohle, um über die Runden zu kommen. Das Wetter war viel schlechter, die Leute aber deutlich lockerer. Es gab keine Berge, die Luft war nicht so frisch – aber es ließ sich freier atmen.
Als ich wieder beim Heilpraktiker war, sagte ich zu ihm:
„Sagen Sie mal: Kann man mit Hilfe dieses Stabs auch andere Fragen beantwortet bekommen?“
„Ja, klar!“, antwortete er.
„Ich möchte wissen, ob Berlin oder Zürich besser zu mir passt.“
„OK, schauen wir!“, sagte er, richtete den Stab und murmelte vor sich hin:
„Veso und Zürich. Veso und Zürich ...“
Der Stab drehte sich im Kreis.
„Veso und Berlin. Veso und Berlin. Veso und Berlin ...“
Der Stab machte vertikale Bewegungen.
„Ganz klar, Zürich!“, sagte der Arzt.
„Merci vielmals!“, antwortete ich, wie die Schweizer es taten.
Als ich nach Hause ging, grübelte ich viel.
Eigentlich sagte mir das Herz, dass ich nach Berlin zurückmusste.
Ich lief lange am See entlang. Das Wetter war trübe. Die Wolken hingen dicht über meinem Kopf.
„Alter! Was ist mit dir los?! Du siehst sehr gedankenverloren aus!“, unterbrach mich eine Männerstimme.
Ich hob den Kopf und sah einen Freund, dem ich oft zufälligerweise in Zürich begegnete. Er hieß Ibrahim. Er war halb Libanese und halb Deutscher und war vor einigen Jahren von Berlin nach Zürich umgezogen. Ibrahim trieb viel Sport und war immer elegant angezogen.
Ich erzählte ihm vom Geschehen beim Heilpraktiker, und er lachte sich krumm.
„Wieso lachst du?!?“, fragte ich ihn.
„Veso, wir sind doch nicht so blöd! Dieser Arzt möchte dich klar als Kunden behalten. Deswegen will er, dass du in Zürich bleibst!“
Dann musste ich auch lachen.
Er hatte recht. Eigeninteresse hatte in Zürich Primat.
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