DIE THAI MASSAGE

 

DIE THAI MASSAGE

 

Es war einer dieser grauen, regnerischen und windigen Tage Ende Oktober, den man am liebsten in einem Spa oder im Bett mit einem schönen Buch oder einem hübschen Mädchen verbringen würde.

Ich musste leider arbeiten. Als die Mittagspause kam, habe ich versucht, mich an die positive Seite des Lebens zu erinnern: Zuerst lud ich mich zum einem Fisch-Curry bei meinem Lieblingsinder ein. Dann versprach ich mir, dass – wenn ich auf dem Weg zur Arbeit eine Thaimassage-Praxis erblicken würde – ich mir eine Rückenmassage gönnen würde. Unser Körper ist schließlich das Haus, in dem Seele und der Geist eine halbwegs harmonische Wohngemeinschaft zu bilden versuchen und man musste diese nach bestem Wissen dabei unterstützen.

Wenn man sich etwas vom ganzen Herzen wünscht, kommt das früher oder später zur Erfüllung. Es dauerte nicht länger als 5 Minuten, als ein schön aussehender Thaimassage-Salon auftauchte. Auf einem noblen Hintergrund in dunklem Lila stand mit großen, goldenen Buchstaben „THAI MASSAGE“. Im Schaufenster hing ein riesiges Poster mit dem menschlichen Körper und seinen Energiezentren, das mir das Gefühl vermittelte, dass sich diese Menschen besonders gut damit auskannten.

Neben dem Poster stand „HAPPY HOUR VON 12 BIS 14 Uhr“. Zuerst las ich anstatt „HAPPY HOUR“ – „HAPPY END“ und dachte, dass die Thaimassage eine erotische Komponente beinhaltete.

Ein hungriges Huhn träumt vom Korn“, lautet ein bulgarisches Sprichwort. Deswegen las ich es noch einmal und dieses Mal richtig. Es war „HAPPY HOUR“ und kein „HAPPY END“. Darunter stand noch kleingeschrieben „keine Erotik“, um hungrige Hühner mit solchen Gedanken aus dem Weg zu räumen.

Ich schaute auf die Uhr meines Handys und lächelte zufrieden. Es war genau 13 Uhr. Das Schicksal war heute auf meiner Seite. Ich wusste von der Thaimassage, dass sie eine 2500 Jahre alte Tradition hat und mit dem indischen Arzt von Buddha ihren Ursprung verband. Ich konnte mich glücklich schätzen, in einer internationalen Stadt wie Berlin zu leben und so eine Massage von Thai-Menschen angeboten zu bekommen, ohne die ganze Reise nach Thailand wagen zu müssen.

Ich klingelte an einer weißen Plastikklingel und die Tür öffnete sich.

Eine kräftige, untersetzte Thai-Dame Ende 50 schaute mich grimmig an und fragte:

Termin?“

Guten Tag!“, antwortete ich mit einem Lächeln und fügte freundlich hinzu:

Nein, ich habe keinen Termin, aber ich würde gerne eine Rückenmassage machen –

wäre das auch ohne Termin möglich?“

Kommen Sie!“, ordnete sie an und ließ mich hinein.

Sie war klein und trug einen schwarzen Kimono. Ihr linkes Auge war zu. Ihr ganzes Gesicht wurde dadurch gezeichnet und das verlieh ihm eine unübersehbare Prise der Härte und Unberechenbarkeit.

Der Vorraum des Salons hatte die Größe von ca. 15qm. Es gab ein Sofa und einen kleinen Tisch. An den Wänden hingen Bilder der Königsfamilie Thailands.

Hat sie an einem Kampf teilgenommen?“, fragte ich mich insgeheim. Hoffentlich nicht mit einem ihrer Kunden, versuchte ich mir gedanklich gute Laune zu machen. Schließlich war ich gekommen, um mich zu entspannen, und war bereit dafür zu bezahlen.

Die Dame führte mich in eine größere Räumlichkeit hinein, in der die Massagebanken mit riesigen lila Vorhängen voneinander getrennt wurden.

Hoffentlich arbeitet sie nur an der Rezeption“, dachte ich mir. Sie zeigte mir mit ihrer Hand die Massagebank.

Ausziehen – Unterhose behalten!“, ordnete sie an.

Als ich an ihr vorbeiging, spürte ich ihre kräftige, knochige Hand in meinen Rücken. Es fühlte sich so an, als ob die Spitze eines Holzstocks meine Haut berühren würde und ich sprang zur Seite.

Ich hoffte wirklich, dass sie nicht diejenige war, die mich massieren würde, sagte aber nichts. Hätte ich den Mut gehabt nachzufragen und nein zu sagen, wäre mir vielleicht einiges erspart geblieben, was danach passierte.

Nachdem ich meine Klamotten auf einen Stuhl hingelegt hatte, bereitete ich mich auf der Massagebank aus.

Es fühlte sich angenehm an, in diesem Raum zu liegen. Eine sanfte Flötenmusik war zu hören. Ich spürte die Wärme der vorgeheizten Matratze unter mir und war eben dabei, fast einzuschlafen, als eine strenge Stimme mich in die Realität zurückbrachte:

MAAASKE!!!“

Die Stimme klang rau und stand im Widerspruch zu der entspannten Musik. In Deutschland herrschte zur Zeit Maskenpflicht wegen des Corona-Virus. Man musste eine Bedeckung für Mund und Nase in den öffentlichen Verkehrsmitteln sowie in den Supermärkten tragen, aber in der Massagepraxis hätte ich damit nicht gerechnet. Ich nahm meine Maske vom Stuhl und setzte sie auf. Danach sah ich, wie die einäugige Dame, die eine blaue Maske anhatte, schnell blaue Handschuhe anzog und ihre Hände großzügig mit Öl beschmierte. Mit ihrem Outfit erinnerte sie mich an die Ärzte während der operativen Eingriffe in Krankenhäusern.

„Wo Problem?“, fragte sie.

Im oberen und unteren Rücken!“, zeigte ich mit der Hand, um sicher zu sein, dass sie mich verstand.

Vielleicht täuschte mich dieser erste Eindruck. Hoffentlich hatte ich es mit einer Profimasseurin zu tun, die mir wirklich helfen würde, weniger Spannung in meinem Rückenbereich zu spüren.

Als es losging, kam eine alte Erinnerung in mir hoch. Als ich klein war, saß ich mit meinem Vater auf dem Sofa und schaute mir Ringkämpfe während der Olympischen Spiele im Fernsehen an. Bulgarien hatte einen Sportler, der meistens Olympia-Gold mit nach Hause brachte und den Stolz der ganzen Nation kräftigte. Er setzte sich gegen die bulligen Kämpfer aus der damaligen Sowjetunion durch. Es gab eine Position beim Kampf aus dieser Zeit, die in meinem Kopf geblieben war und die mich stark an meine Gegenwartssituation erinnerte. Unser Ringer lag genau wie ich auf dem Bauch und hielt sich mit seinen Händen am Boden so stark fest, dass der andere ihn nicht davon abbringen konnte. Ich klammerte mich an die Matratze und entschied mich – wie unser Nationalheld – keine Schwäche zu zeigen. Die Gegnerin war aber unerbittlich. Sie saß auf ihren Knien neben mir wie einer dieser Kämpfer aus Kasachstan und knetete mit ihrer ganzen Leibeskraft meinen Rücken durcheinander.

Auf mich wartete eine neue Erfahrung, die wenig mit Relaxen zu tun hatte.

Ihre Hände waren zu wahrhaftigen Holzstöcken geworden, mit denen sie meinen ganzen Rücken durchbohrte. Alles tat weh. Ich biss meine Zähne zusammen und hielt mich an den Kanten fest, um nicht stöhnen oder weglaufen zu müssen. Vielleicht wäre das die bessere Option gewesen, da die kommenden 30 Minuten mir wie 30 Jahre erschienen.Wie hielt die deutsche Kundschaft dieser Tortur aus? Vielleicht schafften sie es, weil sie die Erfahrung der Härte mochten. Das war zumindest mein Eindruck nach vielen Jahren Leben in Deutschland.

Was uns nicht tötet, macht uns stärker“, hat einer der führenden deutschen Philosophen Nietzsche mal gesagt.

Ich versuchte mich gedanklich abzulenken, aber der Schmerz brachte mich in die Realität zurück. Der Schmerz brachte uns immer in die Gegenwart zurück.  Die Intensität ihrer Angriffe erhöhte sich. Es wurde immer schlimmer und schmerzvoller. Der Ringkampf war in eine Form des Thai-Boxens übergangen. Die Alte stand mit ihren Beinen auf meinem Rücken und stampfte herum. Dabei fühlte ich mich wie Weintrauben, die zerquetscht werden mussten.

Die Maske hinderte mich daran zu atmen und ich dachte, dass ich bald das Bewusstsein verlieren würde. Ich klopfte verzweifelt mit der Hand auf die Massagebank, wie ein Ringkämpfer, der dem Richter seine Niederlage signalisieren wollte. Glücklicherweise hörten ihre Tritte daraufhin auf. Sie setzte sich wieder neben mich hin. Ich hörte, wie sie ihre Plastikhandschuhe wieder mit Öl beschmierte und versuchte, diese kleine Pause zu nutzen. Ich zog schnell mit Hilfe meiner Zähne die Maske nach unten und befreite meine Nase. Massage mit Maske fühlte sich so an, als ob jemand dich am Hals gepackt hätte und Dir nicht erlaubte, normal zu atmen, dachte ich, als ich wieder einen stechenden Schmerz in meinem Rücken spürte.

Die knochigen Finger der Thai-Dame ließen bestimmt keinen Platz ohne blauen Fleck auf meinem Rücken zu. Ich stöhnte kurz und entschied mich, dieser Quälerei ein Ende zu setzen. Mit meiner rechten Hand probierte ich zuerst entschlossen, ihre Hand anzuhalten, die sich in diesem Moment zwischen meine Rippen bohrte.

Ein bisschen gut?“, fragte mich daraufhin die Dame. Aus meinem Mund kam als Antwort ein schmerzerfüllter Lachkrampf. Dann überlegte ich schnell, dass sie das als eine Art Zustimmung wahrnehmen konnte und fügte schnell hinzu: „Es reicht! Ende!“

Ich setzte entschieden meine Maske ab und warf sie verzweifelt auf den Stuhl mit meinen Klamotten.

Dann drehte ich mich mühsam um und schaute mir meine Peinigerin an. Sie schaute mich mit ihrem einem Auge verständnislos an. Ihr Gesicht strahlte Emotionslosigkeit aus. Ich stellte mir vor wie einer ihrer Kunden während des in der Massage entflammten Kampfes mit einem Faustschlag das Auge in diesen Zustand gebracht hat. Daraufhin musste ich lächeln.

30 Minuten – vorbei!“, kündigte ihre Stimme festlich an.

Ich antwortete nicht. Langsam versuchte ich aufzustehen. Alles tat weh. Die Frau war weg. Gott sei Dank! Ich trocknete mit meiner Hand den Schweiß ab, der sich rund um meinen Mund gebildet hatte. Mit Mühe und Not zog ich mich wieder an.

Wie konnten solche Menschen solche Jobs ausführen und dafür noch bezahlt werden?“, fragte ich mich.

Ich ging zum Vorraum und bezahlte die 22 anstatt der 25 Euro wegen der Happy Hour. Danach ging ich, ohne ein Wort zu sagen.

Nächst Mal eine Stunde! Besser!“, holte mich ihre Stimme ein.

Ich drehte mich nicht um, sondern schüttelte nur meinen Kopf. Eine Stunde hätte ich wahrscheinlich nicht überlebt. Ich machte die Tür auf und hinter mir zu. Es fühlte sich so gut an, wieder draußen zu sein und frei ein- und ausatmen zu können.

Zum ersten Mal freute ich mich auf meinen Arbeitsplatz.

Es war schön, am Leben zu sein. Das war ein wirkliches HAPPY END!

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