CHRISTO

Christo
Ich stand vor dem verhüllten Reichstag und mein Atem blieb mir im Hals stecken. Das Gebäude widerspiegelte die Strahlen der untergehenden Sonne und leuchtete in einem mir unbekannten, silbernen Glanz. Es fühlte sich wie ein Erlebnis aus einer anderen Dimension an. Brasilianische Musiker in weißen Gewänden trommelten im Samba Rhythmus mit Lächeln auf ihren Gesichtern und eine wunderschöne, dunkelhäutige Frau im roten Kleid tanzte ausgelassen im Kreis, den sie gebildet hatten.
"Wow!", dachte ich.
"Was für ein Moment!"
Das war mit Abstand das schönste Kunstwerk, das ich bis zu diesem Zeitpunkt meines Lebens gesehen hatte. Ich war stolz darauf, dass ein Landsmann von mir so etwas auf die Beine stellen konnte und wünschte mir vom ganzen Herzen, ihm die Hand zu drücken.
23 Jahre hatte der Christo Wladimirow Jawaschew mit seiner französischen Frau Jeanne-Claude um die Erlaubnis für die Realisierung dieses Projektes gekämpft. Er lebte seit 60-er Jahren in New York, flog aber regelmäßig nach West Berlin und versuchte, die deutschen Politiker von seinem Vorhaben zu überzeugen. Dabei traf er auf viel Widerstand. Insbesondere waren der damalige deutsche Kanzler Helmut Kohl und sein Kollege Wolfgang Schäuble strikt dagegen. Sie sollten das Projekt als eine Kränkung empfunden haben. Jeder der 662 Abgeordneten bekam einen persönlichen Brief von Christo und Jeanne-Claude mit Erläuterung für das Projekt. Ritta Süssmuth-die damalige Präsidentin des Bundestages, unterstützte sie. Als die Mauer fiel und der Reichstag vom englischen Architekten Sir Norman Foster umgebaut werden sollte und eine Glaskuppel als Symbol für den Neubeginn darauf entstehen musste, war der richtige Zeitpunkt für die Verhüllung gekommen. Das deutsche Parlament stimmte noch vor seinem Umzug von Bonn nach Berlin ab und die Ausführung des Kunstprojektes von Christo und Jeanne-Claude wurde genehmigt.
"Finden Sie das für richtig, dass sich der Bundestag in der Zeit nach der Wiedervereinigung, in der Deutschland so viele Probleme zu bewältigen hat, mit Entscheidungen für ein solches Projekt beschäftigen sollte", fragten ihn Journalisten vor laufenden Kameras.
"Ich finde, dass in der 45 jährigen Geschichte des Deutschen Parlaments 45 Minuten der Kunst gewidmet werden sollten", kam die kurze Antwort des Bulgaren.
Er redete fließend Englisch und war fast immer in Begleitung seiner Frau. Die beiden schienen unzertrennlich zu sein und waren zufälligerweise am gleichen Datum geboren. Wenn man daran Glaube schenken sollte, dass unsere Seelen genau den Zeitpunkt und den Ort ihrer Geburt auswählten, wäre die Begegnung der beiden kein Zufall gewesen.
Ich wusste, dass Christo in der Kunstakademie in Sofia drei Jahre studiert hatte, bevor er mit 21 aus Bulgarien floh. Über Zwischenstationen in Wien, wo er auch ein Semester Kunst studierte und Genf, gelangte er in Paris. Dort verhüllte er alles, war er für interessant hielt: Dosen, Flaschen, Stühle und Autos. Christo hielt sich über Wasser, indem er Porträts malte. In Paris traf er sie: die Liebe seines Lebens Jeanne-Claude. Als der Bau der Berliner Mauer begonnen wurde, startete das bulgarisch-französische Paar sein erstes gemeinsames Projekt:
Sie bauten zusammen in Paris eine Mauer aus Ölfässern – ihre Interpretation des Eisernen Vorhangs. Das Künstler Paar wollte das im Zentrum von Paris in einer Seitenstraße von Rue de Seine machen und beantragte eine Erlaubnis. Als sie aber keine bekamen, entschieden sie sich, das trotzdem in die Tat umzusetzen. 204 Ölfässern schleppte Christo zur Rue de Visconti und baute die Mauer im Alleingang während seine Freundin Jeanne-Claude damit beschäftigt war, die Polizisten eine Weile hinzuhalten. Beiden wurden deswegen festgenommen und auf Polizeiwache verhört.
Ich lernte Christo nach seiner Präsentation der Reichstagsverhüllung im Haus der Kulturen der Welt persönlich kennen. Er warb um ehrenamtliche Helfer, die bei dem Schutz des Reichstags Wache halten konnten. Er konnte kein Geld zahlen, aber signierte Bücher und speziell für das Projekt entworfene und handsignierte T-Shirts standen als Belohnung da. Ich wusste damals noch nicht, dass er seine Projekte ausschließlich aus eigenen Mitteln in die Tat umsetzte und keine Sponsoren annahm. Das garantierte seine Unabhängigkeit und künstlerische Freiheit bei der Realisierung seiner Projekte.
Ich holte ihn nach, nachdem er den Saal mit seiner Frau Jeanne-Claude verlassen hatte. Er hatte Stoffhose und weißes Hemd an. Sie trug eine dunkle Hose mit einer gelben Bluse. Von der körperlichen Größe her war ich einen Kopf höher. Davor hatte ich gründlich überlegt, wie ich ihn ansprechen würde:
"Einen wunderschönen guten Tag", begrüßte ich ihn mit einem breiten Lächeln auf Bulgarisch.
"Ich freue mich, Sie und Ihre Frau persönlich kennenzulernen. Die Schwester meiner Oma hat in ihrer Heimatstadt Gabrovo geheiratet und kennt ihre Familie. Oma Mara. Sie lässt Sie herzlich grüßen."
Christo sah mich an. Er wirkte müde und schmächtig. Unter seinen Augen waren Schatten zu sehen. Kein Wunder, wenn man daran denkt, dass er die letzten 23 Jahre deutsche Politiker davon überzeugen musste, ein solches Projekt genehmigt zu bekommen. Was für ein Glaube, Geduld und Durchhaltevermögen sollte dieser kleine, magere Mann mit schulterlangen, dunklen, lockigen Haaren in sich haben, um daran zu bleiben und es zu realisieren?, fragte ich mich und schaute mir sein Gesicht aufmerksam an. Von seinem Gesichtsausdruck war keine Emotion abzulesen. Seine Augen strahlten eine Mischung zwischen Stärke und Demut aus. Er beobachtete mich aufmerksam.
"Are you Bulgarian? This is so nice!", hörte ich die fröhliche Stimme seiner Frau, die mir herzlich die Hand schüttelte.
"Yes, I am", antwortete ich mit einem Lächeln.
"Are you going to work at the project to protect the Reichstag?", hörte ich Christo fragen. Seine Stimme klang tief und bestimmend.
"Ich würde so gerne", antwortete ich weiter auf Bulgarisch.
"aber ich bin zur Zeit im Klausurenstress und befürchte meine Prüfungsvorbereitung mit dieser Arbeit nicht kombinieren zu können", versuchte ich möglichst gebildet mich auszudrücken. Schließlich stand ich vor einem der größten lebendigen Künstler der Gegenwart.
"Aber ich liebe und bewundere zutiefst Euer Projekt und werde so oft wie möglich Zeit dort verbringen", redete ich auf ihn weiter auf Bulgarisch ein.
Ich dachte mir, wenn er die ersten 21 Jahre seines Lebens in Bulgarien verbracht hatte, sollte seine Muttersprache tief bei ihm verankert sein.
Damit sollte die Beschreibung seiner ersten schönen Empfindungen und Emotionen verbunden sein. Die erste Liebeserklärung, die erste Begeisterung beim Spiel mit seinen Brüdern, die ersten Worte der Anerkennung und Aufmerksamkeit seitens der Eltern, die ersten Worte der Freude. Das konnte niemand aus dem Gehirn eines Menschen löschen. Damals wusste ich nicht, dass Christo seit langem kein Wort Bulgarisch geredet hatte.
Seine Frau gab mir ein signiertes Buch zum Abschied als Geschenk, drückte herzlich meine Hand zum zweiten Mal, bevor sie weggingen. Christo sagte nichts mehr. Er hielt Distanz. Wahrscheinlich hatte er mit vielen anderen Sachen zu tun, als sich mit einem jungen Bulgaren zu unterhalten. Es traf mich, dass ich mehr Aufmerksamkeit von seiner Frau als von ihm bekam. Nicht mal ein Wort auf Bulgarisch hat er mit mir gewechselt. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er in allen diesen Jahren des kalten Krieges Angst vor dem bulgarischen Geheimdienst hatte. Schließlich hatten sie den Mord eines anderen bekannten bulgarischen Künstlers- der Schriftsteller Georgi Markov im Zentrum Londons meisterhaft inszeniert, indem ihm durch eine angeblich zufällige Berührung mit Hilfe eines Regenschirms ein tödliches Gift in den Körper zugefügt wurde. Ich wusste, dass Christo aus der Familie eines Fabrikanten stammte. Sein Vater besaß eine Chemie Fabrik. Dort sollte Christo als Kind seine Vorliebe für verhüllte Objekte und große Stoffbahnen entdeckt haben. Die Kommunisten haben alles konfisziert und verstaatlicht. Die Christos Familie sollte viel darunter gelitten haben. Das sollte tiefe Spuren bei Christo hinterlassen haben. Aber der Berliner Mauer war gefallen. Der kalte Krieg war vorbei. Ich war 21 Jahre alt und ich konnte nichts mit diesen alten Strukturen zu tun haben. Das war doch genau das Alter, in dem er sich befand, als er aus dem kommunistischen Regime geflohen war. Der Unterschied war es, dass er durch die Verschlechterung seiner Lebensumstände dazu gezwungen wurde, sein Land zu verlassen. Weder ich noch meine Familie wurden in Bulgarien von den Kommunisten schikaniert. Ich konnte ihn deswegen nur bedingt verstehen, aber ist es nicht ein wichtiges Teil unsres Lebens zu verzeihen, um unseren Weg ohne diesen Last der Schuld und Zorns weiterzugehen? Wusste ein Mann von diesem Kaliber, dessen Kunstwerke weltweit Aufsehen erregten und Millionen Menschen berührten, das nicht? Später haben mir Freunde erzählt, dass sie im Fernsehen ein Treffen zwischen Christo und seinem Bruder Anani gesehen haben. Anani war ein angesehener Schauspieler in Bulgarien.
"Christo, erinnerst Du dich an die Kirche, hinter der wir als Kinder gespielt haben?", sollte sein Bruder ihn auf Bulgarisch gefragt haben.
"I don´t remember", sollte Christo auf Englisch geantwortet haben.
Etwas war in ihm gebrochen, um sich so abzuwenden.
Schämte er sich Bulgare zu sein?
Wollte er lieber als ein New Yorker wahrgenommen werden? Schließlich war sein Geburtsort Gabrovo eine kleine Provinzstadt, die in Bulgarien mit Witzen über den Geiz ihrer Einwohner die Runde machte.
"Papa, Papa- ich habe heute 2,80 Euro für den Busticket gespart, da ich nicht eingestiegen, sondern ihm hinterher gelaufen bin"
"Gut gemacht, mein Sohn, aber sieh zu, dass du nächstes Mal einem Taxi hinterherläufst, um das Dreifache sparen zu können!"
Da die Schwester meiner Oma in Gabrovo lebte, hatte ich als Kind mehrmals die Möglichkeit diese Stadt zu besuchen. Es gab ein Museum des Humors im Zentrum. Es gab viele Häuser und viel Essen. Unsere Verwandten hatten uns immer sehr gastfreundlich empfangen.
Konnte Christo das Blatt einfach umdrehen, als ob die ersten 21 Jahre nichts ins Buch seines Lebens geschrieben hätten? Man sagt, dass ein Mensch die ersten drei Jahre seines Lebens mehr als im Rest des Lebens lernen würde.
Hatte er seit so langer Zeit Abschied genommen und alle Kindheitserinnerungen losgelassen, dass seine Herkunft für ihn nicht mehr von Bedeutung war?
Ich entschied mich, ihm ein Geschenk zu machen. Ich hatte eine Audiokassette mit dem weltbekannten bulgarischen Frauenchor "Le Mystère des Voix Bulgares". Das war eine hoch spirituelle Folklormusik, die sogar in das Weltall geschickt wurde, um Kontaktaufnahme zu anderen Zivilisationen zu erleichtern. Ich schrieb darin auf Bulgarisch:
"Lieber Christo, Schämen Sie sich nicht Bulgare zu sein! Schämen Sie sich nicht Bulgarisch zu reden, da die Muttersprache der Beginn jeder Entwicklung darstellt oder vertreten Sie eine andere Meinung?"
Ich unterschrieb mit meinem Namen und Anschrift mit der Hoffnung, eine Antwort von ihm zu bekommen.
Das Projekt mit der Verhüllung des Reichstages war ein riesiger Erfolg. Obwohl die Gegner bei der Eröffnung mit Feuerpfeilen versucht haben, alles in Brand zu setzen, hatten Christo und Jeanne-Claude vorgesorgt: Der Reichstag wurde mit über 100.000 m² feuerfestes Polypropylengewebe, das mit einer Aluminiumschicht überzogen war und dadurch gegen solche Angriffe gewappnet. Fünf Millionen Menschen aus der ganzen Welt strömten in diese zwei Wochen nach Berlin, um sich das anzuschauen. Helmut Kohl änderte seine Position und schlug Christo sogar vor, die Zeitdauer der Verhüllung zu verlängern.
Christo lehnte das Angebot vom Bundeskanzler höflich ab.
Auf die Frage, die ich auf der Rückseite der Audiokassette geschrieben hatte, die ich ihm schenkte, bekam ich keine Antwort.






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