Der Wein, der nicht getrunken werden durfte
Der Wein, der nicht getrunken werden durfte
Die
Einladung kam überraschend. Es war der zweite Weihnachtstag. Ich war bei einem
Freund zu Besuch und spielte mit seinem kleinen Hund Mimi. Ab und zu verschickte
ich mit meinem Handy „Fröhliche Weihnachten“-Nachrichten oder bekam selbst
welche. Um Zeit zu sparen, kopierte ich einen Standardgruß, in dem ich meinen
Freunden Liebe und Freude wünschte, personalisierte ihn und schickte ihn an die
meisten Menschen aus meinem Freundeskreis.
„Wenn
man Liebe und Freude hat, hat man alles“, dachte ich mir. Dann bekam ich eine
unerwartete Nachricht.
„Wir
machen bei Peter heute ein Abendessen. Magst du dazu stoßen?“
Die
SMS kam von einem guten Bekannten. Ein deutscher Freund namens Hans, der bestimmt
35 Jahre alt war und ein eigenes Unternehmen führte.
„Wer
ist Peter?“, fragte ich zurück.
„Bester
Freund, graue Haare, klein“, kam als Antwort.
Bester
Freund, graue Haare, klein – was für eine Beschreibung. Ich konnte damit wenig
anfangen, aber warum sollte ich auch etwas damit anfangen.
„Das
beste Geschenk, das man einem Menschen machen kann, ist diesem Menschen einen
anderen Menschen vorzustellen“, hat ein französischer Poet geschrieben und ich
gab ihm recht.
„Gerne“,
antwortete ich per SMS.
„Kannst
du was zu trinken mitbringen? Einen guten Wein?“
„Klar.
Wann geht es los?“
„Um
19:30h.“
Ich
schaute auf meine Uhr. Es war bereits schon19h.
„Rot
oder Weiß?“
„Rotwein
– es gibt Lamm.“
Ich
ging nach Hause. Ich hatte einen italienischen Rotwein, der von 100 Punkten
einer Weinkenner-Skala 92 bekommen hatte. Ich nahm ihn aus dem Weinregal heraus
und schaute ihn mir an. Ein schwarzes Etikett, goldene Buchstaben, gelungenes,
visuelles Marketing. Dann packte ich ihn in meine Tasche und ging los. Es regnete.
Auf den Straßen von Berlin waren nur einige Touristen unterwegs. Es war
Weihnachten und die Menschen verbrachten diesen Abend bei ihren Familien. Die
Wohnung von Peter lag nicht weit entfernt. Ich ging zu Fuß und war 15 Minuten
später dort. Dann klingelte ich und die Tür ging auf. Ich machte das Licht im
Treppenhaus eines alten Gebäudes an und stieg die Treppen hinauf.
Im
vierten Stock stand die Wohnungstür offen. Ich ging hinein und grüßte die
Menschen in der Küche. Es gab zwei dunkelhaarige Frauen und drei Männer mit
grauen Haaren. Die Frauen waren um 40. Einer von den Männern war mein
Bekannter. Er stellte mich den anderen vor. Die Menschen machten einen netten
Eindruck auf mich. Sie grüßten mich freundlich und waren mit dem Kochen
beschäftigt. Es duftete nach Kürbissuppe. Ich hatte Hunger.
„Muss
man die Schuhe ausziehen?“, fragte ich Hans.
„Nein,
brauchst Du nicht“, antwortete er. Er trug einen Vollbart, hatte eine Brille
mit schwarzem Rahmen und schwarze Jeans an.
„Was
magst du trinken?“, fragte er mich.
„Rotwein
und ein Glas Wasser, bitte.“
„Im
Moment haben wir noch keinen Rotwein offen“, sagte er.
„Das
kann man schnell ändern“, antwortete ich und holte die Flasche aus meiner
Tasche und überreichte sie ihm. Mit dem Blick eines Kenners betrachtete er lang
das Etikett.
„Ich
bin auf diesen Wein gespannt. Da steht:
92 Punkte von 100 auf der Skala von Guiseppe Maruderi!“
„Mal
sehen – hoffentlich ist das nicht die Skala seiner Großmutter!“, wollte ich
hinzufügen, aber ich hielt mich zurück. Die Menschen waren vornehm angezogen
und brauchten keine groben Kommentare aus dem Balkan. Ich kam ins Gespräch mit
den Damen. Sie waren aus dem Iran.
„Persien
ist der Ursprung des Weines, stimmt´s?“, fragte ich die eine.
„Ja,
Shiraz! Rumi und Hafiz haben den Wein in vielen ihrer Gedichte unsterblich
gemacht“, antwortete sie selbstbewusst.
„Traurig,
dass es heutzutage verboten ist, Wein zu trinken und anzubauen – das ist so
nach der moslemischen Revolution, oder?“, versuchte ich das Gespräch zu
vertiefen.
„Ja,
leider! Wein wird nur zu Besuch bei Freunden oder zu Hause getrunken. Sonst
riskiert man, dass man öffentlich ausgepeitscht wird“, antwortete die zweite.
Sie hatte eine riesige Nase und lockige, dunkle Haare.
Wir
setzten uns im Wohnzimmer an einen langen, weißen Tisch, der mit langen, roten
Kerzen geschmückt war. Es gab viele schöne, schwarzweiße Fotos von Landschaften
an den Wänden sowie einen Stapel von großen Kunstbüchern auf dem Boden.
Es
war lustig, mit Menschen den zweiten Weihnachtsabend zu verbringen, die ich zum
ersten Mal in meinem Leben traf und wahrscheinlich nie wieder treffen würde.
Das war Berlin- offen für alles.
Das
Essen schmeckte köstlich. Das Gespräch ging eine Weile um die Haustiere. Katzen
gegen Hunde. Viele gingen auf den Balkon, um zu rauchen. Ich ging in die Küche,
um dem Gastgeber meine Hilfe anzubieten. Er lehnte höflich ab. Ich sah am
Küchentisch eine zweite Flasche Rotwein stehen.
„Sollte
ich diese Flasche auch aufmachen?“, fragte ich ihn.
„Klar“,
sagte der kleine Mann mit grauen Haaren. Er hatte etwas Warmes, etwas
Fröhliches in seiner Ausstrahlung. Er gab mir einen Korkenzieher und ich machte
sie auf. Ich sah, dass sie einen Alkoholgehalt von 14,5% hatte und aus
Frankreich kam. Ich schenkte mir ein wenig ein und war überrascht, wie gut es
schmeckte.
Ich
nahm die Flasche mit mir ins Wohnzimmer und stellte sie auf den Tisch. Daneben
standen noch einige Flaschen Weißwein und meine Rotwein-Flasche, die fast
ausgetrunken war. Mein Bekannter kam vom Balkon zurück und schenkte sich von
meinem Wein in sein Glas ein.
„Probiere
den französischen!“, sagte ich zu ihm.
„Mir
schmeckt er besser“, fügte ich hinzu.
„Der
französische...“, sagte er leise vor sich hin und ich sah wie sein Gesicht rot
vor Aufregung wurde.
„Hast
Du ihn aufgemacht?“, fragte er. Seine Frage klang eher wie ein Seufzer.
„Ja,
gerade“, antwortete ich.
Hans
nahm die Flasche in die Hand, hielt sie fest und schaute mich perplex an, ohne
ein Wort zu verlieren. Sein Atem beschleunigte sich, seine Augen wurden klein,
sein Gesicht rot, seine Stirn lag in Falten. In seinem Gesichtsausdruck sah ich
eine Ansammlung von Vorwürfen.
„Du
hast ihn gerade aufgemacht...“, wiederholte er vor sich hin.
„Ja.
Ich habe Peter gefragt und er meinte, ich könnte die Flasche öffnen. Solche
Weine brauchen ein bisschen mehr Zeit zum Atmen. Hätte ich es nicht tun sollen?“
„Weißt
Du, dieser Wein kostet mehr als 80 Euro...“, sagte mein Bekannter.
Er
setzte sich hin, schaute weiter auf die Flasche in seiner Hand mit einer
Mischung aus Traurigkeit, Wut und einem Hauch von Verzweiflung und schüttelte den
Kopf. Seine Stimme wurde tiefer. Er wollte nett sein, konnte aber nicht. Seine
Stimme klang wie Kakao, der ohne Zucker serviert wurde und bitter schmeckte.
„Ich
nahm diesen Wein mit mir bestimmt zu zwanzig Mal verschiedenen Abendessen mit
und wartete auf den passenden Augenblick, um ihn zu trinken…“.
Er
stand wieder auf. Er hielt die Flasche fest in seiner rechten Hand. Wir waren
allein im Wohnzimmer. Die Anderen hielten sich auf dem Balkon auf. Hans setzte
seine Rede mit lauter Stimme fort:
„Dieser
Wein vergewaltigt dich nicht. Dieser Wein bezwingt dich mit seiner sanften
Härte. Das ist ein Wein, der dir das Zeichen geben sollte, die Erlaubnis
erteilen sollte, um ihn trinken zu dürfen...“
„Mein
Freund, der Geist des Weins sprach zu mir, dass ich ihn aus der Gefangenschaft
der Flasche erlösen sollte“, wandte ich ein.
„Ich
hörte deutlich seine Stimme. Sie war weich und hatte eine Tiefe, die mich in
der Tat bezwungen hat“, fügte ich hinzu.
Hans
schaute mich ungläubig an.
„Wirklich?“
„Ein
Witz, Alter – entspann´ Dich! Du redest von diesem Wein wie vom Mount Everest.
Der Berg erlaubt den Bergsteigern, wann sie ihn besteigen sollten. Hättest Du
den Wein nicht trinken wollen, hättest du die Flasche besser verstecken können
oder erst gar nicht mitbringen wollen.“
Mein
Freund redete und pries den Wein weiter an. Er bedauerte weiter, an diesem
Abend diese wertvolle Flasche trinken zu müssen und stellte die Flasche auf
einen Nebentisch in greifbare Nähe.
Ich
konzentrierte mich auf das Essen. Das Lammfleisch war nicht ganz durch und ich
konnte es nicht bis zu Ende essen.
Neben
mir saß eine 50-jährige, fein angezogene Dame aus Düsseldorf, die uns mit
leuchtenden Augen erzählte, dass es ihr nicht gelang, sich nach vielen Jahren
in Singapur, Shanghai, Budapest und London, in Berlin einzuleben.
„Woran
liegt das?“, fragte mein Freund mit dem Wein.
„Der
Blick der Deutschen auf die Welt ist sehr eng und begrenzt“, antwortete sie,
ohne nachzudenken.
„Man
sagt auch über die Schweizer, dass nicht die Berge ihr Hauptproblem wären,
sondern dass sie die Berge vor ihren Augen haben“, fügte ich hinzu.
„Dürfte
ich euch einen Schluck von diesem edlen Tropfen anbieten, um euch vom Gegenteil
zu überzeugen?“, fragte daraufhin mein Freund und holte die 80 Euro- Flasche
heraus.
„Klar,
es ist höchste Zeit dafür“, reichte ich ihm mein Glas.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen