Deutschland ist kein guter Ort zum Sterben
Deutschland ist kein guter Ort zum Sterben
Ich war zum
ersten Mal in der Abschiebehaft Grünau und fühlte mich wie in einem Gefängnis
für Schwerverbrecher:
Riesige, weiße Mauer mit Stacheldrahten und Videokameras
sorgten dafür, dass keiner der Insassen nach außen gelangen konnte. Die
Eingangstür war eine Schiebewand, die von einem Knopf betätigt wurde. Ich wurde
von zwei uniformierten Beamten mit strengen Blicken durchgesucht, bevor ich auf
das Gelände hineingehen durfte. Ich
wusste, dass die Menschen, die in diesem Gefängnis saßen, ein einziges
Verbrechen in ihrem Leben begangen haben: Sie wurden nicht in einem EU Land
geboren und durften deswegen nicht in Deutschland bleiben. Sie mussten zurück
in ihre Heimat zurückkehren.
Dieser Ort war eine Zwischenstation, von der aus
ihre Abschiebung organisiert wurde. Ich musste für so einen Insassen
dolmetschen. Ein Beamter führte mich in einen kleinen Raum hinein. Als ich den
Bulgaren, für den ich dolmetschen sollte, sah, war mein erster Gedanke:
„Was machst
du hier, Opa? Warum hast du dein Dorf und Familie verlassen, um in so einer
sterilen und menschenfeindlichen Umgebung leben zu müssen?“
Der Mann war
bestimmt Ende 70. Er hatte weiße Haare und ein weißes, sauberes Leinenhemd. Er
hatte ein offenes und freundliches Gesicht. Damals war Bulgarien nicht Teil der
Europäischen Union und jeder, der in Deutschland ohne gültiges Visum erwischt
wurde, musste zurück geschickt werden. Das Gesetz sah vor, um Flugkosten zu
sparen, dass der Mensch in das Nachbarland Deutschlands zurückgeschickt
wurde, wo er die Grenze überquert hatte.
So waren die deutschen Beamten bemüht, herauszufinden, woher der Opa nach Deutschland gelangte.
„Wie kamen
Sie nach Deutschland?“, fragte der Beamte gleich am Anfang.
Der Raum des
Verhörs war nicht mehr als 14 qm und
hatte ein kleines Fenster mit Gittern. Der Opa saß auf einem der drei Stühle.
Ich saß ihm gegenüber. Die Beamten führten das Interview im Stehen. Ich
übersetzte die Frage ins Bulgarisch.
„Zu Fuß“,
sagte der Opa und zeigte auf seine Füße mit Stolz.
„Obwohl ich
nächstes Jahr 85 werde, hören sie noch auf mich.“
Das war ein
richtiger Abendteurer, dachte ich mir. Mit 85 zu Fuß in fremde Länder zu
reisen.
„Warum kamen
Sie hier?“, fragte der zweite Beamte. Er hatte ein langes blasses Gesicht und
trug eine Brille mit einem schwarzen Rahmen.
Ich
übersetzte.
„Mein Sohn“,
antwortete der Opa mit weicher Stimme.
„Ich habe
mein ganzes Leben in einem kleinen Dorf in den Bergen verbracht. Meine Geliebte
ist letztes Jahr gestorben. Meine zwei Söhne sind in die Hauptstadt
gezogen. Ich habe nicht mehr so lange zu
leben..“
„Schränken
Sie sich bitte auf die Fragestellung ein!“, unterbrach das lange Gesicht die
Ausführung des Opas. Ich übersetzte.
„Ich habe
viel Gutes über Deutschland gehört und wollte mir anschauen, wie das Leben hier
so ist. Im muss meiner Oma im Jenseits etwas Neues berichten können“, lachte
der Opa gelassen.
„Wo genau
haben Sie die Grenze überschritten?“, fragte der Brillenträger.
Ich war
dabei, die Frage zu übersetzen, als der Opa zu mir sagte:
„Mein Junge, ich
möchte hier nicht bleiben. Deutschland
ist kein guter Ort zum Sterben. Seit einem Monat muss ich in einer
Zelle, die kleiner als dieser Raum ist, den ganzen Tag allein sitzen und habe
keinen Kontakt zu anderen Menschen. Bitte sag den deutschen Jungs, sie sollten
mich nach Hause schicken. Da will ich sterben.“
Ich
übersetzte. Die Gesichter der Beamten blieben regungslos.
„Fragen Sie
ihn, wo er genau die Grenze überschritten hat?“
Ich wusste,
dass sie darauf waren, einfach Polen oder Tschechien als Antwort zu erfahren,
damit sie den alten Mann da absetzen können, um Transportkosten zu sparen. Ich
fragte den Opa.
„Ich habe
die Grenze über den Balkan überschritten!“, antwortete
er. Vom Dorfsbulgarisch übersetzt sollte das heißen, dass er über die Berge
gelaufen war, um nach Deutschland zu gelangen. Die einfachen Menschen nutzten
Balkangebirge als Synonym für einen Berg. Das wussten die Beamten natürlich
nicht.
„Der Opa
sagt, er ist von der balkanischen Halbinsel nach Deutschland gekommen“, sagte
ich.
„Das kann
nicht sein! Er sollte von irgendwo die Grenze überschritten haben, wenn er zu
Fuß gelaufen ist!“, wandte der eine Beamte ein.
„Der Opa
sagte noch, dass er das Gefühl hat, dass er bald sterben wird..“ setzte ich
noch eine darauf.
„Das bleibt
uns noch übrig!“, wandte der andere Beamte und flüsterte etwas ins Ohr seines
Kollegen.
„Ja,
schicken wir den Alten lieber die Tage mit dem Flieger nach Bulgarien zurück!“,
hörte ich den anderen sagen.
Die Beamten
haben die Übersetzung richtig verstanden.
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