Berlin aus der Sicht meines Vaters



Berlin aus der Sicht meines Vaters

Mein Vater war ein riesiger Kerl. Er war über 2 Meter groß und über 100 Kilo schwer. Es war Sommer, als er zum ersten Mal nach Berlin zu Besuch kam. Er wollte kein Hotelzimmer nehmen und zog es vor, bei mir im Studentenwohnheim auf einer Matratze zu schlafen. Das fand ich cool.
„Du hast es hier richtig gut!“, sagte er zu mir.
„Wie meinst du das?“
„Es ist ein Luxus, wie du lebst.“
„Na ja, wenn man ein 25 Quadratmeter großes Zimmer als Luxus bezeichnen kann...“
„Weißt Du, als ich studiert habe, schliefen wir in einem nur wenig größerem Zimmer mit 40 Leuten zusammen.“
„Na ja, dann mussten die Betten bestimmt zwei Etagen haben, oder?“
„Ja, ich zog immer die obere Etage vor, aber es war immer so eng und viele schnarchten.“
„Na ja, wenigstens war da immer etwas los und du hast dich nicht so einsam gefühlt wie ich hier in Deutschland. „
„Aber hier sind auch andere Studenten und in deiner Etage wohnen bestimmt 10 oder mehr?“
„Ja, hier wohnen sogar 12, aber weißt Du, worauf sich unsere Kommunikation beschränkt?“
„Worauf?“
„,Hallo´ zu sagen, wenn du in die Gemeinschaftsküche hineingehst und ,Tschüs´ zu sagen, wenn Du sie verlässt.“
„Naja, das klingt nach einem deutschen Kommunikationsmodell. Du musst das gleiche einführen, wenn du auf die Gemeinschaftstoiletten gehst. ,Hallo´  vor dem großen Geschäft, und ,Tschüs´ danach!“, machte sich mein Vater lustig.

Ich mochte unsere Gespräche. Er hatte viel Humor und Akzeptanz für andere Lebensweisen. Draußen aber passierten zwei Sachen, die sein Bild von Berlin maßgebend prägten. Als wir in der U-Bahn zum KaDeWe fuhren, knutschten zwei Männer auf dem gegenüberliegenden Sitz. Das war etwas, was man in Bulgarien nicht beobachten konnte und mein Vater schaute sich das mit einer Mischung aus Überraschung und Abneigung an. Später waren wir im KaDeWe und im Aufzug fuhr ein schwules Paar mit uns. Die Männer waren im Alter meines Papas, hatten Lack, Leder und Stiefel an und hielten sich verliebt die Hände.

Mein Vater schüttelte nur den Kopf. Wir redeten nicht darüber.
Monate später, als ich wieder in Bulgarien war und wir am Mittagtisch zusammen mit der ganzen Familie saßen, sagte er:

„Als Deine Schwester geheiratet hat, mochte ich ihren Mann nicht besonders. Ich dachte, wie konnte sie einen Mann ohne gute Ausbildung und Uniabschluss heiraten?! Danach lernte ich ihn besser kennen und erkannte seinen guten Charakter. Jetzt liebe ich ihn!“

„Na ja, dann muss ich ihm sagen, dass er mit Dir vorsichtig sein muss!“, versuchte ich ihn auf den Arm zu nehmen.

Mein Vater reagierte zuerst nicht auf meine Bemerkung. Nach einigen Sekunden sah ich, wie ein paar Erinnerungen von seinem Berliner Besuch hochkamen. Er schüttelte entgeistert den Kopf und sagte:

„Du und diese perverse Stadt!!“

 

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