Die teuersten Zuckerwürfel der Welt






"Papa, Du musst die bulgarischen Zigeuner nach Ägypten schicken, um zu lernen, wie man besser stehlen kann", scherzte ich mit meinem Vater. 

Er beschäftigte sich zu dieser Zeit mit Weiterbildungsmaßnahmen in Bulgarien und lachte gelassen über meinen Scherz. Oft findet man im Scherz eine Menge Wahrheit. Die Zigeuner waren in Bulgarien dafür bekannt, dass sie gerne von anderen Menschen oder von der Straße etwas mitgehen ließen.

In Ägypten waren deren Kollegen um einiges fortschrittlicher:

Es war der letzte Tag meines Urlaubs in Ägypten.  Ich bin früh aufgestanden, um ein letztes Mal schwimmen zu gehen. Es war herrlich, Sonne, Strand und Meer zu genießen. Es war der 11. Februar. Mein Handy zeigte 7 Uhr. Die Temperatur des Meeres betrug 22C. Mein Freund schlief noch.

Der Bus, der uns zum Flughafen bringen sollte, sollte uns um 11:30 Uhr abholen. Unser Hotel hieß Hussein Palace. Es hatte 4 Sterne, was aus meiner Sicht aber einer zuviel war. Bei den meisten Hotelanlagen der gehobenen Kategorie am Roten Meer hatte ich das Gefühl, dass die Ägypter ein paar Sterne aus dem Himmel holten. Unser Hotelstrand hatte aber die 4 Sterne verdient. Er trug nicht zufällig den Namen "Dream Beach" und galt als einer der schönsten Strände in Hurghada. Wenn man kein Hotelgast war, sollte man umgerechnet 10 USD Eintritt zahlen. Ein Betrag, den sich nur die reichen Einheimischen und die Touristen leisten konnten. Man bekam dafür eine komfortable Liege und ein Strandtuch und konnte den Tag mit einer angenehmen, ruhigen Musik im Hintergrund und eine schöne Aussicht auf das Meer genießen.

Ich sprang vom Steg dreimal ins Wasser und trocknete mich anschließend ab. Dann verabschiedete ich mich von einigen Besuchern, die ich während meiner Woche Urlaub kennengelernt hatte und ging zurück ins Hotel. Meine Reisetasche hatte ich bereits am Abend zuvor gepackt. Ich ging mit einem zufriedenen Lächeln durch das Foyer, überquerte den Garten mit dem Pool und stieg ich die Treppen bis zur zweiten Etage hinauf, wo sich unser Zimmer befand. Im Flur sah ich den Jungen, der unser Zimmer saubermachte. Ich hatte auf dem Weg darüber nachgedacht, ob ich ihm Trinkgeld hinterlassen sollte. Einmal hatte ich ihm eine Schokolade gegeben, einmal ließ mein Freund unter dem Bettkissen einen Dollar für ihn liegen, aber beides nahm er ohne besondere Freude oder Dankbarkeit an. In einem armen Land wie Ägypten freuten sich normalerweise die Reinigungskräfte in den Hotelanlagen über solche Kleinigkeiten. Sie wurden in der Regel unterbezahlt und mussten für ihr Überleben hart arbeiten. Unser Junge sah aber eher wie einer aus, der an diesem Trinkgeld nicht besonders interessiert war. Er war weder klein noch groß, hatte kurze, schwarze, lockige Haare und dunkle Augen.Es gab etwas in seiner Ausstrahlung,  was eine gewisse Reife und Intelligenz zeigte.Er sah wie ein Typ aus, der ruhig Anzug und Krawatte tragen konnte. Etwas, wovon ich mich in wenigen Minuten überzeugen konnte.
 
"How much?", fragte er mich und zeigte mit der Hand auf meine Halskette.
"1 dollar", antwortete ich.
Er holte unter seinem T-Shirt die gleiche Kette und sagte überrascht:
"This 2 dollars!"
"Yes, yes-mine is 2 dollars too", erinnerte ich mich an den richtigen Preis. Interessant, dass wir Jungen vom Zimmerservice den gleichen Geschmack teilten und auch den gleichen Preis zahlten.

Normalerweise zahlten die Ägypter einen Bruchteil davon, was von den Touristen verlangt wurde. Ich lächelte ihn an. Am Tag davor hatte er nicht unser Zimmer aufgeräumt und ich fragte mich, inwieweit er uns dadurch darauf aufmerksam machen wollte, am Ende unseres Aufenthaltes großzügiger mit dem Trinkgeld zu sein. Mit einem solchen Gedanken machte ich die Tür unseres Hotelzimmers auf.  Der  Freund, mit dem ich reiste, lag noch im Bett und hörte laute Musik. Er hatte eine fröhliche Natur und dementsprechend war sein Musikgeschmack. Es war eine Art von brasilianischer Samba, die Lebensfreude im Herzen auslöste und den Körper zur Bewegung motivierte.

"Hast Du alles gepackt?", fragte ich ihn.
"Klar! In 10 Minuten kommt der Flughafentransfer, um uns abzuholen!", antwortete er und streckte sich im Bett aus. In diesem Moment klingelte das Zimmertelefon, um uns mitzuteilen, dass der Bus bereits da war.
"In 10 minutes!", antwortete der Freund gelassen und sang laut mit.  Nach einer Woche Sonne, Strand und Meer konnte man mit Fröhlichkeit mitsingen.

Ich schaute auf den Safe. Er war offen und mein Reisepass und Geldwaren darin zu sehen.  Ich erinnerte mich an einige Russen, die bei ihrer Abreise feststellten, dass sie Geld aus dem Safe vermissten und zählte aufmerksam die Banknoten. Ich sollte darin 100 Euro, 1000 EGP und 30 SFR haben, stellte aber fest, dass nur 50 Euro, 800 EGP und 20 SFR darin waren.

"Mir fehlt Geld!", sagte ich zu dem Freund, als ich sie noch einmal durchzählte.
"Bist Du sicher", fragte er zurück.

In meinem Kopf fieberte es. Ich überlegte noch einmal, wofür ich Geld ausgegeben hatte. Ich hatte 200 EGP für Rückenmassage bezahlt, aber die restlichen 800 EGP sollten im Safe sein. Die Euros und Franken hatte ich sowieso nicht angerührt. Ich tastete die Fläche im Safe vorsichtig ab. Es gab drei Zuckerwürfel darin. Das waren die gleichen Zuckerwürfel, die man im Restaurant für den Kaffee und Tee benutzte. Was machten sie in unserem Safe?

"Alter, hast Du diese Zuckerwürfel in den Safe hineingetan?"
"Nein, ich dachte, du wärst das", antwortete mein Freund.
"Hier stimmt etwas nicht! Mach bitte die Musik aus!" 

In diesem Moment klopfte jemand an unsere Tür. Ich machte auf und sah einen riesigen Ägypter, der unsere Koffer nach unten tragen wollte.
  
"Can I help with the suitcases", fragte er.

Ich hatte das Gefühl, dass hier alle zusammengehörten.

"No,thanks" , antwortete ich kurz und machte die Tür zu.

Es war etwas faul. Alle wollten Dir helfen wegzufahren und Dein Geld stimmte nicht!
  
Ich überlegte kurz. Der Einzige, der Zugang zu unserem Zimmer hatte, war der Junge vom Zimmerservice. Ich machte die Tür auf und sah ihn noch im Flur stehen.

"My money is not here", sagte ich zu ihm.
"Your money? No possible!”, antwortete er.
"I go to General Manager now!"
"How much?", fragte er zurück und ging mit mir ins Zimmer, ohne dass ich ihn dazu aufgefordert hatte. Er ging schnell an mir vorbei, näherte sich dem Safe und tat so, als ob er mein Geld zählen würde.

"50 Euro and 200 EGP and 10 SFR.”
Here Euro, here Pounds, here Franks"

Ich schaute wieder im Safe nach und sah, dass das Geld wieder da war. Allerdings sahen die Banknote so aus, als ob sie davor sorgfältig zusammengefaltet wurden.

Der Junge vom Zimmerservice seufzte mit Erleichterung und ging aus dem Zimmer.

"Alter, hier stimmt etwas nicht! Hier sind ägyptische Zauberer am Werk! Die geldgierigen Nachfolger der Pharaonen", sagte ich zu meinem Freund und fragte ihn:
"Hat der Junge gerade das Geld wieder hineingetan Ich bin mir sicher, das Geld war vorher nicht da!"
"Ich habe ihn beobachtet. Unmöglich, dass er die Banknoten wieder hineingebracht hat. Er hatte kurzes T-Shirt an ", antwortete der Freund, der ein Weltbummler war und vieles in seinem Leben erlebt hatte.
"Wie hat er das danngemacht", fragte ich mich und schaute mir den Safe vorsichtig an. Hinter der Tür gab es eine Kluft. Eine Art Schlitz, in den die zusammengefalteten Banknoten hineinpassen würden.
"Schau mal hier!", zeigte ich das dem Freund.
"So so", antwortete er.
"Es stand unten im Foyer, dass das Hotel keine Haftung für verlorene Wertsachen im Safe tragen würde", dachte er laut mit.
"Ein ausgeklügeltes System: Am Tag vor der Abreise einige Banknoten zusammenzufalten und in den Schlitz hinter der Safetür zu legen."
"Was machten dann diese Zuckerwürfel darin?"
"Es gab drei Zuckerwürfel und Dir fehlten drei Banknoten", antwortete mein Freund, stand auf und schüttelte kräftig seinen riesigen Kopf.
"Denk darüber nach, wenn Du aus dem Safe von 15 Zimmern Geld gestohlen hast und erwischt wirst, musst Du schnell wissen, wie viele Banknoten Du aus dem Schlitz zurückholen solltest. Du hast nurwenige Sekunden zur Verfügung. Die Nummer der Zuckerwürfel macht es für ihn einfacher. Drei Zuckerwürfel stehen für die drei Banknoten, die er schnell hinlegen konnte!"
"Alter,wie intelligent! Man merkt, dass Du studiert hast! ", sagte ich. 

Wir nahmen unsere Taschen gingen gemeinsam nach unten.

"Lass uns diesem Fall ein wenig Publicity verleihen!",  fügte ich hinzu und ging zur Hotelrezeption. Da standen ein Mädchen und ein Junge. Sie waren jung und ihre  Gesichter strahlten Freundlichkeit aus. Wir fragten nach dem General Manager. Ich nahm ein Beschwerdeformular und schrieb alles auf. Der Hoteldirektor erschien bald. Er war um die 40 Jahre alt. Er hatte einen blauen Pullover an und sah mager aus. Ich schilderte ihm noch einmal den Fall und übergab ihm meine Beschwerde. An der Rezeption waren mittlerweile mehrere Angestellte des Hotels versammelt. Ich erkannte ein paar Typen von der Security unter ihnen. Bald holten sie den Jungen, der unser Zimmer putzte. Es war für mich erstaunlich, wie ruhig und gelassen er wirkte.
Irgendwo hatte ich gelesen, dass Unschuldige, wenn sie zum Verhör bei der Polizei geladen wurden, laut protestierten und oft die Nerven verloren. Im Gegensatz dazu waren die Schuldigen oft in sich gekehrt und wurden ruhiger und introvertierter.

Das schien hier der Fall zu sein. Der Junge stand da und sein Gesicht verriet keine Emotion.

Ich ging das Geschehen mathematisch durch: Eine einfache Kalkulation ergab Folgendes: Wenn täglich in diesem Hotel 50 Zimmer aufgeräumt werden mussten, aus denen Gäste abreisen sollten, und pro Zimmer 100 Euro gestohlen wurden, ergab das eine Tagesgage von 5.000 Euro für die Putzhilfe. Ein Tagessatz, von dem man in Deutschland nur träumen konnte und der dem Gehalt für bestimmt 10-15 Jahre Arbeit im Zimmerservice in Ägypten entsprach.

Kein Wunder also, dass er sich über einen Dollar Trinkgeld und eine Schokolade  nicht freuen konnte!

Alles war aber besser organisiert, als ich mir vorstellen konnte. Die Zuckerwürfel, das Knacken unserer Zahlenkombination. Ich fragte mich, ob der Junge allein an diesem Spiel beteiligt war oder ob das Hotelmanagement auch mitmachte. Ich schaute mir den Hoteldirektor an. Er blieb auch ruhig. Sein Gesicht verriet auch keine Emotion. Er schaute seinen Angestellten mit einem prüfenden Blick an. Dann holte er zwei Visitenkarten aus seiner Brieftasche und sagte zum Abschied: "I am sorry".

Wir stiegen in den Bus hinein, der uns zum Flughafen bringen sollte.
Auf dem Weg dorthin erinnerte ich mich an eine Begebenheit, die sich bei unserem letzten Besuch in Ägypten vor einem Jahr zugetragen hatte. Damals waren ich mit meinem Freund in einem besten Hotels der Stadt unterbracht.

"Alter, kannst Du dich daran erinnern?"
"Woran?"
"Bei unserer letzten Reise, letztes Jahr im Grand Hotel, gab es auch Zuckerwürfel in unserem Safe.. "
Mein Freund dachte kurz darüber nach und sagte:

"Doch – ganz sicher. Ich kann mich daran erinnern.  Damals kamen wir abernicht auf die Idee, unser Geld zu zählen, da der Kofferträger uns zum Bus bringen wollte.."

Ich begriff, dass wir bei unserem letzten Ägypten-Aufenthalt auf die gleiche Art und Weise betrogen worden waren. So eine organisierte, kreative, kriminelle Energie hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben erlebt. Die bulgarischen Zigeuner konnten in der Tat viel lernen.

Unser Bus fuhr zum Flughafen und ich musste noch das Erlebte verarbeiten. Ich trank von der Flasche Mineralwasser und schaute den vorbeifahrenden Autos hinterher.

"Im last minute-Preis, den wir bezahlt haben, waren die Zuckerwürfel nicht miteinbegriffen." sagte ich zum Schluss.

"Das waren definitiv die teuersten Zuckerwürfel der Welt", antwortete mein Freund.

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