Der Schlüssel zur Freiheit

 

"Der Schlüssel zur Freiheit"

Julia kam aus einer kleinen bulgarischen Provinzstadt nach Berlin, um zu studieren. Sie gehörte zu der Art von Frauen, wegen derer die Männer in Bulgarien behaupten, dass in ihrem Land die schönsten Frauen der Welt leben. Sie sah umwerfend aus und fand bald einen Job als Model, mit dem sie mühelos ihre Lebenshaltungskosten decken konnte. Sie reiste viel, und viele Männer begehrten sie und wollten sie als Freundin haben.

Unter den bulgarischen Studenten gab es einen internen Schönheitswettbewerb. Jedes Jahr stimmten wir darüber ab, wer das schönste bulgarische Mädchen in Berlin sei. Wir trafen uns in einer urigen, verrauchten Kneipe in Kreuzberg. Die Wände waren mit alten Filmplakaten und vergilbten Zeitungsausschnitten dekoriert. Der Duft von Bratwurst und Pommes lag in der Luft, vermischt mit dem Aroma von verschüttetem Bier und abgestandenem Rauch. Wir saßen an einem langen, abgenutzten Holztisch, der schon viele Nächte voller Diskussionen und Gelächter erlebt hatte. Während wir Wein und Bier tranken, gab jeder von uns seine Stimme ab. Man sagt, dass die Schönheit einer Frau von der Männerwelt bestimmt wird. Vielleicht galt das auch für das Aussehen eines Mannes. Julia fand immer einen Platz unter den Top-Drei-Kandidatinnen.

"Einfach atemberaubend schön mit diesen blauen Augen und langen dunkelbraunen Haaren und dazu außergewöhnlich intelligent", schwärmte ein bulgarischer Freund während der Abstimmung und nahm genussvoll einen großen Schluck aus seinem Bier. Miro war groß und muskulös. Er studierte Geografie, reiste viel und liebte die Frauen. Das Bier war für ihn eine Art Lebenselixier.

"Schön mag sie sein, aber wie kannst du behaupten, dass sie klug ist?", wandte ich ein. "Hast du jemals ein normales Gespräch mit ihr geführt, um ihre Intelligenz zu testen?" Die Kneipe war voll. Wir saßen an dem langen Holztisch. Zwölf junge Männer diskutierten lebhaft darüber, wer das schönste Mädchen aus ihrem Land in der deutschen Hauptstadt sei. Gerade wurden die Ergebnisse der Abstimmung bekanntgegeben. Julia hatte dieses Jahr den ersten Platz belegt. Irgendwie war ich damit nicht einverstanden.

"Sie schaut dich mit diesen wunderschönen Augen an, lässt dich reden und zeigen, was für ein großartiger Kerl du bist, und lässt dich hoffen, dass du eine Chance bei ihr hättest. Du ziehst voreilige Schlüsse, ohne zu wissen, was in ihrem schönen Kopf während des Gesprächs vorgeht. Vielleicht geht da gar nichts vor – eine Black Box", argumentierte ich weiter.

Julia war tatsächlich eine sehr gute Zuhörerin und schenkte ihrem Gesprächspartner die verdiente Aufmerksamkeit. Sie wusste, wie man das Ego eines Mannes streichelt. Sie schien auch ein wahres Interesse an bulgarischen Männern zu haben. Zuerst war sie vier Jahre lang mit einem Programmierer aus Sofia zusammen. Danach hatte sie eine Beziehung mit einem Jura-Studenten. Das war für mich einer der Gründe, weshalb sie dieses Jahr den Wettbewerb gewonnen hatte.

"Sie ist bildhübsch und überhaupt nicht materialistisch! Sie hätte locker einen Mann mit viel Geld kriegen können, aber lässt sich auf diesen armen Studenten ein. Sie glaubt an die große Liebe, sie ist ein echtes Juwel", sagte Miro dazu. "Das stimmt!", bestätigte ich ihn. Sie hätte leicht einen reichen Mann finden können.

So vergingen die Jahre, und jeder von uns ging seinen eigenen Weg. Miro zog nach Bulgarien zurück und bereiste die Welt als Reiseführer. Er wollte den Menschen dabei begleiten, die Schönheit der Welt zu entdecken. Irgendwann kam die Nachricht, dass Julia einen neuen Freund hatte, der 30 Jahre älter war als sie und ehemaliger Frontsänger einer bekannten amerikanischen Band.

Ich rief sofort Miro an und erzählte ihm davon. "So sind die Models heute! Zuerst geben sie dir Hoffnung, dass der Glaube an die große Liebe noch existiert, und dann zerstören sie sie," bemerkte Miro. "Wie kann sie mit so einem alten Knacker zusammen sein? Kriegt er ihn noch hoch?", fragte er entsetzt.

Seitdem konnte man Julia nur auf Social Media sehen. Meistens wurde sie vom Hubschrauber oder einem schwarzen Bentley transportiert. Vier weitere Jahre vergingen. Irgendwann erschien ein Foto von ihr aus Berlin mit einem Schlüssel in der Hand. Darunter schrieb sie als Kommentar: "Der Schlüssel zur Freiheit."

"Hast du eine Wohnung in Berlin gekauft?", fragte ich darunter.

 "Ja :)", schrieb sie als Antwort. 

"Sie hat sich eine Wohnung kaufen lassen", erklärte mir Miro und fügte mit einem Seufzer hinzu:

 "Menschen, die Sicherheit mit Freiheit verwechseln, bezahlen den Preis für ihre Sicherheit mit ihrer Freiheit."



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