Stephan


 Stephan

“Wie fühlst du dich in Bulgarien nach 30 Jahren im Ausland?”, fragte mich Vani. Er war ein Freund aus der Studienzeit und ich wollte ihm möglichst ehrlich antworten.  

“Wie ein Tier, das aus dem Zoo in den Dschungel zurückkehrt!”

“Ha Ha”, lachte er gelassen. Er ließ seine dunkle Haare lang wachsen und ähnelte einem Hippie. Seine grünen Augen glänzten unter den dicken, schwarzen Augenbrauen.

“Und? Wie schätzt du deine Chancen zum Überleben ein?”

“Bruder, das Leben gibt dir immer eine Chance zu überleben, aber du musst wissen, dass die Tiere, die dir hierzulande über den Weg laufen, größere Krallen und schärfere Zähne haben.Außerdem sind sie meistens hungrig und meine einzige Chance besteht darin, schneller auf einen Baum hochzuklettern, um aus deren Reichweite zu entfliehen."

“Warum bist du dann zurückgekommen?”, kam seine logische Frage. Ich saß mit ihm in der Ecke eines kleinen Cafés. An den Wänden hingen Bilder Naturbilder. Rund um uns gab es drei winzige Tische, an denen Jungs und Mädels etwas laut diskutierten.

“Deshalb!”, deutete ich auf sie hin.

“Wie deshalb? Was meinst du damit?”

“Schau, was abgeht! Menschen sind hier wilder und hungriger nach Leben. Im Zoo stumpfst du ab. Du kannst dort zwar ein relaltiv langes und ruhiges Leben führen, aber die Frage, die du dir stellen musst ist, ob du wirklich lebst.”


“Mit anderen Worten kannst du im Dschungel mehr das Gefühl der Freiheit auskosten. Habe ich dich richtig verstanden?”, lächelte Vani.


“Du hast es gesagt!”, nickte ich ihm mit Lächeln entgegen..


Ich war 19, als ich Bulgarien verließ. Seitdem ist viel Wasser geflossen. Das Land hat sich verändert. Ich habe mich auch verändert. Ich hatte etwas von allen Orten mitgenommen, an denen ich in dieser Zeit gelebt habe. Ich war an andere Umgangsformen und Spielregeln des Alltags gewöhnt. Unabhängig davon, ob du es willst oder nicht, nimmt du immer vom Ort, an dem du dich länger aufhältst und dessen Energie etwas mit. Die Zeit schritt voran. Mein Vater ist gegangen und meine Mutter näherte sich ihrem 80. Geburtstag. Mein Sohn ist eben 6 geworden und sollte in Deutschland eingeschult werden. Was ich mir am wenigsten wünschte, war, dass mein Kind die Sozialisierung in der deutschen Schule von Anfang an durchmachen musste. Sich in eine kleine funktionierende Maschine umzuwandeln, die darauf programmiert wird, dass jeglicher Ausdruck von Emotionen ein Zeichen der Schwäche wäre. Es war Zeit zum Handeln. Ich fand schnell eine Wohnung im Zentrum von Sofia. Unsere Bleibe wurde in Berlin schnell untervermietet. Mit der Leichtigkeit des Sommers und mit wenig Gepäck begann unser neues Vorhaben.


In der kleinen, zentral gelegenen Straße, in der wir einzogen, lebte ein Mann, der auf mich von Anfang an einen Eindruck machte. Er war mittelgroß und hatte tiefe dunkle Augen. Er war bestimmt nicht älter als 50, aber seine Haare waren hellgrau. Sein Schreibtisch war im Erdgeschoss und man konnte durch die Glasscheibe beobachten, womit er beschäftigt war. Er saß vor einem großen Computerbildschirm und betrachtete verschiedene Diagramme. Ich dachte, er würde an der Börse investieren, aber als wir uns austauschten, erzählte er mir, er sei Professor an einer technischen Universität. Er hatte einen Zettel an seine Glastür geklebt, auf dem in großen Buchstaben stand:


"BITTE NICHT ÖFFNEN, DAMIT DIE KATZE NICHT ENTKOMMT"


Sein Kater war ein Schönling. Er hatte silbergraues, glänzendes  Fell und einen wohlbehüteten Körper. Man konnte sofort merken, dass sich der Mann gut um ihn kümmerte. Er liebte es, am Fenster zu sitzen und sich in der Nachmittagssonne zu sonnen. Fast jeden Abend kam eine weiße Katze und die beiden spielten durch die Fensterscheibe. Wenn einer auf die eine Seite sprang, folgte der andere und umgekehrt. Sie schnupperten sich gegenseitig, obwohl die Glastrennwand es ihnen nicht erlaubte, sich zu berühren.Offensichtlich kannten sie sich seit langem. Der Unterschied war, dass die weiße Katze auf der Straße lebte und sich irgendwann in der Dunkelheit der Nacht verirrte, während der silbergraue Kater drinnen blieb. Dort, wo es warm und hell war.


Eines Tages sah ich den Mann auf der Straße vor seinem Büro rauchen. Er trug schwarze Jeans und ein dickes weiß kariertes Hemd, und die Falten auf seiner Stirn verrieten seine Sorgen.

"Wie geht es Dir?" , fragte ich.

"Stefan ist weggelaufen", sagte er, und ich konnte den Schmerz in seiner Stimme spüren.

"Wer ist Stephan?"

"Mein Kater!”

“Wie ist er weggelaufen?”

“Er nutzte ein paar Sekunden Unaufmerksamkeit meinerseits aus und machte sich davon."

"Konntest du ihn nicht fangen?"

"Ich habe mein Bestes dafür getan!”

In seiner Stimme spürte man seine Aufregung.

“Es gelang mir, ihn unter einem Taxi zu kriegen, und gerade als ich ihn am Nacken packen wollte, biss er mich. Er ist läufig."

"Weißt du, ich habe in den letzten Nächten wirklich das Miauen der Katzen gehört. Du weißt, wie sie heulen. Wie kleine Babys. Vielleicht spielt Stephan mit der weißen Katze und ihre lange romantische Beziehung ist in eine neue Phase übergangen. Vielleicht geht es ihm gut und hat viel Spaß da draußen", deutete ich mit dem Kopf auf die Straße.

"Ausgeschlossen!”, erhöhte der Mann seine Stimme.

“Der weiße Kater ist kastriert und ebenfalls männlich", fügte er kurz angebunden hinzu.

Es fühlte sich so an , als ob er es nicht wahrhaben wollte, dass es seiner Katze ohne ihn gut gehen konnte. 

"Ich glaube nicht, dass Katzen einen Unterschied zwischen männllich und weiblich machen, wenn es darum geht, ihre Leidenschaften auszuleben."

"Oh", stöhnte der Mann unzufrieden und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. 

"Wenn du ihn siehst, packe ihn bitte am Nacken und bringe ihn hierher!'' Bitte! Es tut mir so weh, dass er nicht länger bei mir ist."

"Weißt du, es gibt einen brasilianischen Schriftsteller, Jorge Amado. In einem seiner Bücher habe ich gelesen, wie eine Bande Straßenkinder das Haus eines reichen Mannes ausraubt und auf das gleichaltrige Kind der Familie trifft. Und weißt du, was es den Straßenkindern gesagt hat? Er sagte: ``Ihr müsst ein sehr aufregendes Leben führen.”


Der Mann lächelte verbittert und ging zurück zum Computer.

In den nächsten Tagen sah ich, wie er Katzenfutter vor die Tür stellte, aber es wurde nicht angerührt. Im Allgemeinen hatte ich in Sofia den Eindruck, dass die Menschen in der Innenstadt oft Katzenfutter auf der Straße liegen ließen, um die Straßenkatzen zu füttern.


Meine Mutter und ich haben uns zum Essen in einer dieser Kantinen im Zentrum verabredet, wo man sich aussuchen konnte, was und wie viel man wollte, und man bekam es schnell und zu einem guten Preis. Es war 10 Minuten von meiner Wohnung entfernt. Dort sah ich Stephan wieder. Er zwirbelte stolz seinen Schnurrbart, wedelte mit seinem silbergrauen Schwanz in den Himmel und flirtete mit zwei anderen Katzen. Einer war der weiße Kater und dazu kam eine mir unbekannte orangefarbene Katze. Stephan hatte die Augen zusammengekniffen und sich vollkommen dem Moment hingegeben. Es sah so aus, als ob er in Trance gefallen wäre. Ich erzählte meiner Mutter den Vorfall.

"Warum machst du nicht ein Foto und zeigst es ihm?", fragte sie. Wie die meisten älteren Menschen hatte sie ihren Kopf von unnötigen Gedanken und Wünschen befreit und gab klare und praktische Ratschläge.

"Gute Idee", antwortete ich, ging näher heran und knipste es mit meinem Handy. Stefan war so mit dem Spielen beschäftigt, dass er mich gar nicht bemerkt hat. Auf dem Heimweg dachte ich, dass ich es dem Professor zeigen würde. Es war ein sonniger Tag und im Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Die Vögel sangen ungestört ihre Lieder. Ich näherte mich seinem Büro und sah von weitem das Katzenfutter vor der Tür stehen. Es war unberührt. Er saß drinnen und arbeitete an seinem Computer. Die Tür war wie immer geschlossen. Die Warnung, sie nicht zu öffnen, damit die Katze nicht entkommt, war auch da. Nur Stephan war nicht länger da.. Er hatte die Wildnis der Sicherheit vorgezogen. 


Wie lange konnte er das Leben auf der Straße ertragen? Sicherlich würde er bald auch ihre raue Schattenseite kennenlernen. Bald würde er sich mit der Kälte, mit dem Hunger, mit den Straßenkatzen, die stärker als er sind, auseinandersetzen müssen. 

“Wie viele Tage würde er danach noch auf der Straße aushalten?",  fragte ich mich, als mir die Antwort durch den Kopf schoss.

“Die Frage nach der Zeit- war sie wirklich wichtig?”

"La vida son quatro dias", sagten die Kubaner, was auf Deutsch heißt, dass das Leben vier Tage dauern würde. Wie viele davon sind bereits vergangen? In meinem und in Stephans Leben. 

Ich erhöhte das Tempo und ging am Büro des Professors schnell vorbei, ohne mich zu melden.


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