Über die Schönheit und die Hässlichkeit


Über die Schönheit und die Hässlichkeit

„Man, schau mal, was für Mädels in dieser Stadt herumlaufen! Ich sage dir, die Bulgarinnen sind die hübschesten Frauen der Welt. Unglaublich! Schau Dir das an: die Blondine, die gerade mit dem kleinen Gangster vorbeikommt. Das ist eine echte Schönheitskönigin! Auf der Skala von 0 bis 10 gebe ich eine 9“, sagte Ivan zu mir.

Wir saßen in einem Café in der „Witoshka“, der zentralen Straße Sofias, und beobachteten das Geschehen. Der Himmel war blau. Die Sonne schien. Ein alter Mann saß vor dem Café und spielte Gitarre und die Mädchen von Sofia präsentierten sich von ihrer schönsten Seite.
Ich schaute mir die blonde Frau an. Sie war sehr herausgeputzt. Sie trug einen Jeans-Minirock und hohe, weiße Absätze, die die Länge ihrer schönen Beine betonten. Bulgarinnen bemühten sich sehr, so hübsch wie möglich auszusehen. Das taten die Frauen an den meisten Orten der Welt. Die Schönheit einer Frau wurde weltweit daran gemessen, wie viel Beachtung sie von der Männerwelt genießen konnte. Der Blondine mangelte es offensichtlich nicht an Aufmerksamkeit seitens der Männer. Trotzdem fand ich sie nicht besonders anziehend. Sie war mir zu künstlich und der kleine Gangster neben ihr passte aus meiner Sicht perfekt als ihre Begleitung. Ich wollte aber auf keinen Fall die Begeisterung meines Freundes stören.

Ich hörte einmal einen weisen Mann sagen:
„Wenn du Begeisterung und Enthusiasmus löschst, löschst du damit Leben.“
Ich überlegte kurz, wie ich meinem Freund meine Ansicht mitteilen könnte, ohne ihn zu beleidigen.
„Ivan, kennst du die Sage über die Schönheit und die Hässlichkeit?“, fing ich vorsichtig an.
„Welche Sage meinst du?“, fragte er.
„Über die Schönheit und die Hässlichkeit“
„Erzähle mal“, sagte er mit seiner tiefen Stimme.
Ivan war ein kräftiger Kerl, der gerne enge T-Shirts trug, um seine Muskeln zu betonen. Sein Gesicht war gut gebräunt. Das Lächeln war ein fester Bestandteil seiner Präsenz.

„An einem sonnigen Tag wie heute ging die Schönheit spazieren und traf auf ihrem Weg, wie der Zufall es wollte, die Hässlichkeit. Sie plauderten ein wenig und weil es so ein heißer Sommertag war, beschlossen sie, zusammen schwimmen zu gehen. So gingen sie zu einem nahen gelegenen See, zogen ihre Kleider aus und sprangen ins Wasser. Eine Weile spielten sie miteinander und lachten gelassen. Dann musste sich die Hässlichkeit auf den Weg machen, da sie noch andere Verabredungen hatte. Sie ging aus dem Wasser heraus, sah ihr Kleid und das Kleid der Schönheit auf dem Boden liegen, überlegte kurz und beschloss, das Kleid der Schönheit anzuziehen...“

„Die Hässlichkeit ist gar nicht so dumm“, unterbrach mich Ivan und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
„Wie hat die Schönheit darauf reagiert?“, fragte er.
„Die Schönheit merkte zuerst gar nichts.  Nach einer Weile ging sie auch aus dem Wasser heraus und stellte fest, dass nur das Kleid der Hässlichkeit übrig war. Da sie nicht nackt herumlaufen wollte, zog sie dieses Kleid an.“
„Na und, worauf willst Du hinaus?“, fragte Ivan ungeduldig und setzte seine Sonnenbrille ab. Seine dunkelbraunen Augen schauten mich erwartungsvoll an.
Ich erwiderte seinen Blick und fragte:
„Was ist die Essenz der Geschichte für dich, Ivan?“
„Diese Geschichte gibt mir zwei Lektionen: Erstens, nie mit hässlichen Frauen baden zu gehen und zweitens nie meine Klamotten und Wertsachen unbeaufsichtigt liegen zu lassen“, antwortete er.
Ivan war schnell im Kopf. Ich mochte seine offene, direkte Art. Wir kannten uns aus der Kindheit. Es war immer entspannt, wenn wir uns trafen.
„Nein, mein lieber Freund. Dieses Mal liegst du ausnahmsweise falsch.“
„Was ist dann die Essenz?“
„Die Essenz ist, dass man seit diesem Tag nicht mehr so richtig weiß, was schön und was hässlich ist.“

Ivan lachte kurz. Dann nickte er nachdenklich, schwieg einige Sekunden und sagte:

„Ich verstehe nur nicht, warum du solange um den heißen Brei herumreden musst. Wenn Du die Blonde mit dem Gangster nicht mochtest, hättest du es mir auch direkt sagen können. Wir sind hier nicht im Büro, wo du dir jedes Wort vor dem Aussprechen drei Mal überlegen musst.“

„Ivan, du hast Recht. Der Kaffee geht auf mich.“











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