Die ersten Erfahrungen mit den Berliner Verkehrsbetrieben

Die ersten Erfahrungen mit den Berliner Verkehrsbetrieben


Ich war 2 Stunden davor von Sofia in Berlin angekommen und wollte mir die Stadt anschauen. Ich nahm deswegen einen Bus Richtung Zentrum und fuhr los. Irgendwann nach dem Brandenburger Tor fasste ich den Entschluss, auszusteigen.
Der Bus hielt an. Die vordere Tür ging auf und Leute stiegen ein, die hintere Tür jedoch blieb zu. Bei den Bussen in Sofia gingen an jeder Haltestelle sämtliche Türen auf und zu, und man konnte überall ein- und aussteigen.
Da ich dachte, dass die Fahrerin (es war eine Frau!) einfach vergessen hatte, die hintere Tür zu öffnen, wollte ich sie möglichst höflich darauf aufmerksam machen. Schließlich hatte ich einen Monat zuvor mit Auszeichnung das Deutsche Gymnasium der Stadt Sofia abgeschlossen, wo deutsche Lehrer mir fünf Jahre lang die Sprache von Goethe und Schiller beigebracht hatten. Es war an der Zeit, von meinen Sprachkenntnissen Gebrauch zu machen:
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, würden Sie so freundlich sein, die hintere Tür aufzumachen?!“ richtete ich vorsichtig, aber fest meine Bitte an die Fahrerin. Zwischen ihr und mir lagen 4-5 Meter Distanz, die durch mehrere stehende Passagiere überbrückt wurden. Ich musste es deswegen laut genug sagen, damit es zu ihr vordrang. Der Bus war voll und ich hatte den Eindruck, dass alle Fahrgäste mir plötzlich aufmerksam zuhörten. Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und Geschlechts saßen oder standen herum und starrten mich an.
„DRÜCKEN!“ kam ihre kurze Antwort.
„Ach so“, dachte ich mir, „-die Tür funktioniert nicht richtig und ich muss ein bisschen drücken. Das gibt´s also auch bei Mercedes-Bussen in Berlin und nicht nur bei ihren Ikarus-Verwandten in Sofia!“ versuchte ich mir selber Mut zu machen.
Ich drückte mit meiner Schulter zuerst leicht, dann fester gegen die Tür. Sie blieb geschlossen und rührte sich nicht einmal.
Ich entschied mich, meine Bitte erneut an die Fahrerin zu richten, da der Bus zu voll war, die Vordertür zu nehmen und nahm meinen ganzen Mut zusammen.
„Die Tür geht nicht auf. Bitte!! Würden Sie so freundlich sein, die hintere Tür aufzumachen?!“
In meiner Stimme hörte ich einen Hauch von Verzweiflung und Hilflosigkeit. Ich war dem Willen der Fahrerin vollkommen ausgeliefert und dazu nun schon eine geschlagene Halbewigkeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des gesamten Buspublikums. Hoffentlich würde das bald ein Ende haben.
Doch zu meinem Erstaunen lösten meine Worte keine Reaktion aus: Die Fahrerin schaute gleichgültig nach vorn. Auch die anderen Fahrgäste schienen nicht wirklich an meinem Wunsch interessiert zu sein. Wenn ich an dieser Station wirklich aussteigen wollte, musste
ich nun wohl schnell handeln. Schließlich war ich nach Berlin gekommen, um BWL zu studieren und später eine Führungskraft zu werden. In einem Magazin stand, dass zu den Eigenschaften einer Führungskraft Entscheidungsfreude und Durchsetzungsvermögen zählen.
Ich raffte mich auf und wurde lauter:
„Die Tür geht nicht auf! Bitte würden Sie die Tür aufmachen?!“
Die Fahrgäste, die zwischen mir und der Fahrerin standen, wandten mir nun alle ihren Blick zu. Im Bus war es still. Furchtbar still. Alt und jung, Mann und Frau beobachteten mich schweigend. Ich durfte nun wohl keinen falschen Zug machen.
„D-R-Ü-C-K-E-N!!!” Der Schrei kam überraschend laut wie der Schrei eines wilden, gejagten Tieres und durchschnitt den Raum wie ein Schwert. Woran erinnerte mich das? Es war ein sonderbarer Laut, etwas zwischen dem Geschrei eines neurotischen Esels und dem Bellen eines pflichtbewussten Hundes. Es war ein Laut, der nicht aus der Kehle sondern aus dem Leib zu kommen schien und die Zeit zum Stillstand brachte. Er kam aus dem Leib einer Frau.
Nein, es war keine normale Frau. Es war die Berliner Busfahrerin, die geschrien hatte. In diesem Augenblick wusste ich noch nicht, dass die Berliner mit ihren Stimmlauten zu einer eigenartigen Tiergattung gehören, die nicht einfach einzuordnen ist. Alle Fahrgäste warteten auf meine Reaktion.
„So, mein Lieber“ sagte ich erneut verzweifelt freundlich zu mir
„Heute ist Dein erster Tag in Berlin. Dein erster Tag in Deutschland. Du kennst hier sowieso niemanden, und hast vor, ein neues Leben anzufangen. Ohne Mama und ohne Papa. Auf eigenen Beinen stehen. Du willst BWL studieren und Manager werden. Manager besitzen Entscheidungsstärke und Durchsetzungsvermögen. UND WENN DU DIESE SCHEIßTÜR JETZT NICHT AUFKRIEGST, KANNST DU MUTTERSÖHNCHEN SOFORT DAS FLUGZEUG ZURÜCK NACH SOFIA NEHMEN!“
Ich sammelte all meine Kräfte, suchte mit meinen Füßen einen Widerstand, brachte entschlossen meine Hände an die Tür und fing an, meine gesamte Leibeskraft gegen die Bustür zu stemmen. Ich wollte allen beweisen, dass ich es allein schaffen würde. „Ihr könnt mich mal! Ich zeige es Euch allen!“ sagte ich zu mir. Die Tür zitterte. Ich zitterte auch, hatte aber nicht vor aufzugeben. Der Kampf dauerte circa 40 Sekunden. 40 Sekunden, die mir wie 400 Jahre erschienen. Alle beobachteten mich, ohne ein Wort zu sagen. Irgendwann stand ein älterer Herr aus der dritten Reihe der Vorstellung auf. Er hatte einen Gehstock an der Hand und wenige weiße Haare auf dem Kopf. Mit der Stockspitze drückte er auf einen roten Knopf an einer Stange und die Tür sprang auf. Ich stieg total verschwitzt aus, ohne zu wissen, ob ich weinen oder lachen sollte. Ich hörte mein Herz pochen. Mein schickes blaues Hemd klebte an meinem Körper, meine Haare an meiner Stirn.
Ich war ausser Atem, stützte mich mit meinen Händen an die Bushaltestelle. Ich atmete eine Weile ein und aus und schaute auf den Boden. Als ich meinen Kopf erhob, sah ich ein riesiges Poster vor mir hängen.
In einem mit roter Farbe gezeichneten Viereck stand mit grossen, schwarzen Buchstaben geschrieben:
„Welcome to Berlin! Welcome to the capital of freedom, love and passion!”
Ich konnte meinen Augen nicht glauben und las die Botschaft noch einmal leise vor.
„Welcome to Berlin! Welcome to the capital of freedom, love and passion!”
Dann konnte ich nur meinen Kopf schütteln.

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