Zum ersten Mal beim Zahnarzt in Deutschland


Die Zeiten waren hart. Es war mein erster Winter in Berlin und ich litt darunter.
Ich stand auf, als es noch dunkel war und ging ins Bett, als es wieder dunkel war. Zwischendurch war ich an der Uni und hatte Vorlesungen. Als ich durch die Fenster im Vorlesungssaal schaute, war es auch dunkel.

Ich fühlte mich einsam und vermisste meine Familie und Freunde in Bulgarien.
Ich versuchte, mich zu amüsieren und ging ins Kino. Ich musste feststellen, dass die Stellen im Film, die ich lustig fand und mich zum Lachen brachten, die anderen Menschen kalt ließen.
Das bestätigte noch einmal, dass ich fehl am Platz war.
Negative Gedanken herrschten vor in meinem Kopf. 

Wie ein weiser Mensch zu sagen pflegte:
„Worauf du deine Aufmerksamkeit richtest, das kommt in deinem Leben vor.“
So zog ich starke Zahnschmerzen an und musste einen Zahnarzt aufsuchen. Ein Kommilitone aus der Türkei erzählte mir, dass es eine Universitätsklinik gab, in der ich meinen Zahn behandeln lassen konnte. So ging ich hin.
Ich wurde zuerst von einem sehr jungen Arzt untersucht. Dann musste ich meinen schmerzenden Zahn röntgen lassen, bevor ein älterer, erfahrender Arzt sich das Röntgenbild anschaute.

„Wissen Sie – das, was Sie haben, kommt sehr selten vor. Darf ich Sie bitten, den Fall meinen Studenten vorzustellen, damit diese sich damit auseinandersetzen können?“
Ich war mit der Situation überfordert. Zuerst sollte ich verdauen, dass mein Zahn eine seltene Krankheit hatte. Dann sollte ich es öffentlich machen. Das war mir eindeutig zu viel. Ich überlegte, wie ich freundlich ablehnen könnte, als ich die Stimme des erfahrenen Zahnarztes hörte:
„Das würde für eine schnelle und erfolgreiche Behandlung Ihres Zahnes sehr hilfreich sein.“
Also willigte ich ein. 

Zum Zahnarzt zu gehen war für mich eine der unangenehmsten Erfahrungen, die ich im Leben machen musste. In Sofia konnte ich mich wenigstens bei meinen Freunden und meiner Familie davor und danach ausweinen und Verständnis und Mitgefühl bekommen. In Deutschland war ich allein und fühlte mich vollkommen dem Willen des Zahnarztes ausgeliefert.

Ich sagte zu, ohne genau zu wissen, worauf ich mich einließ. 

„Bitte folgen Sie mir. Es dauert nicht lange“, forderte er mich auf.
 Als er mich in einen Lesesaal mit über 100 Studierenden hineinführte und mich auf einen Stuhl vor allen hinsetzen ließ, wusste ich nicht mehr, was hier vorging. Ich überlegte kurz, ob ich weglaufen konnte, als er mich vorstellte, und die Studierenden aufforderte anhand der Röntgenbilder ihre Diagnosen abzugeben. Der Professor gab seinen Studierenden auch die Möglichkeit, sich meinen Zahn aus der Nähe anzuschauen. Viele Studenten und Studentinnen standen von ihren Stühlen auf und kamen auf mich zu. 

Das waren alles junge Leute, die auch wie ich zum Studium nach Berlin gekommen waren. Ich musste den Mund weit aufmachen und so dastehen. So vergingen die nächsten 10 Minuten. 10 Minuten, die mir wie 10 Stunden vorkamen.
Das Licht war unangenehm stark. Die Luft war stickig. Ich fühlte mich wie ein Versuchskaninchen. 

„Vielleicht wäre es angemessen, Kollegen, wenn Sie weiter den Zahn analysieren und näher betrachten, dass Sie die kleine Watte entfernen, die ich in den Zahn hineingelegt habe“, sagte der Professor und löste damit Gelächter der Studenten aus.
Das Blut strömte in meinen Kopf hinein. Ich roch den kalten Schweiß meines Körpers und  fühlte mich so, als ob mich alle auslachten. Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber ich konnte meine Reaktion nicht ändern. Alles war für mich eindeutig zu viel.
Die Vorstellung, das noch einmal über mich ergehen lassen zu müssen, erschreckte mich. Ich musste etwas dagegen tun.

„Darf ich kurz auf die Toilette?“, fragte ich den Prof mit leiser Stimme.
„Aber natürlich. Die Toilette befindet sich am Ende des Ganges. Möchten Sie, dass eine schöne Studentin Ihnen den Weg zeigt?“, fragte er zurück.
„Nein, danke – ich komme zurecht“, sagte ich und packte meine Jacke.

Als ich im Gang war und mich außer der Sichtweite der Menschen befand, rannte ich so schnell weg, als ob der Teufel hinter mir her wäre.

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